Die E-Steuer

Der Bundeskanzler war des Regierens überdrüssig geworden. Trotz diverser Steuererhöhungen, die dem Wahl- und Zahlvolk als Abbau von Steuervergünstigungen und ähnlicher euphemistischer Etikettierungen verkauft worden waren, reichten die Staatseinnahmen hinten und vorne nicht, um den ständig steigenden Posten an Ausgaben begleichen zu können.
Und hätte er nicht insgeheim befürchtet, dass sein findiger Finanzminister mittlerweile sogar schon eine Rücktrittssteuer in Erwägung gezogen hatte – wer weiß, ob er nicht schon längst seinen so unbequem gewordenen Chefsessel geräumt hätte?
Immer öfters gab sich der Kanzler melancholischen Momenten hin; der einzige Quell an Lebensglück, aus dem er derzeit schöpfen konnte, waren Erinnerungen an frühere Zeiten.
Dieser Fundus, dem ihm auch sein chronisch klammer Finanzminister nicht entreißen konnte, war – bedingt durch seine vielfältigen Karrieren im politischen wie familiären Bereich – nachgeradezu unerschöpflich; der Stoff für in der Vergangenheit schwelgende Tagträumereien war schier endlos.
Gleichzeitig ermatteten die kreativen Energien der Koryphäen, die der Kanzler in seinem Kabinett um sich geschart hatte.
Die ständigen Demütigungen vom strengen Onkel aus dem Gelobten Land, dessen Groll auch nicht durch Anbiederungen und Liebedienereien besänftigt werden konnte, waren natürlich ein zusätzlicher Frustfaktor.
In dieser Situation half nur noch ein politischer Überraschungscoup, ein Befreiungsschlag, der sämtliche Mäkeleien und Sticheleien von Seiten der Oppositionsparteien und der Medien zum Verstummen bringen würde.
Des Kanzlers engste Berater setzten sich in dieser Situation vehement dafür ein, neue Diskussionsformen im Kabinett auszuprobieren, um den Ministern das noch vorhandene Potenzial an Ideen auf diese Weise zu entlocken.
Ein Brainstorming wurde schließlich in einer Kabinettssitzung angesetzt, um Vorschläge zu sammeln, wie der Finanzminister mehr Gelder in seinen löchrig gewordenen Staatssäckel schaufeln konnte.
Und bei diesem exekutiven Gehirnsturm wurde sie – die Umsetzung einer radikalen Finanz- und Steuerreform – als kollektive Idee von Kanzler und Kabinett geboren.
Radikal wie nie zuvor auch nur in kühnsten Gedanken formuliert, soll nun eine umfassende Steuerreform die Wirtschaft zu neuer Blüte treiben, den privaten Konsum anheizen und das Investitionsklima, wettbewerbsentscheidend in der globalen Ökonomie, entscheidend verbessern.
Und auf diesem Weg soll auch, die realisierte Quadratur des Kreises, eine neue Form der Steuergerechtigkeit etabliert werden.
Wie wird diese Radikalreform, die demnächst zur besten Fernsehzeit offiziell vom Kanzler bekanntgegeben wird, aussehen?
Sämtliche derzeit erhobenen Steuern (ob Öko-, Tabak-, Einkommens- oder Umsatzsteuer) werden zum nächstmöglichen Zeitpunkt gestrichen.
Dafür gibt es zukünftig nur noch eine einzige Steuer: die „E-Steuer“.
Und die funktioniert ganz einfach: Jeder Erwachsene, der ein Wort mündlich oder schriftlich verwendet, das den Buchstaben „e“ enthält, zahlt 10 Cent „E-Steuer“ – pro Wort, wohlgemerkt.
Ausdrücklich wird im Gesetzestext auch nicht ausgeschlossen, dass zukünftig, bei Fortschritt der entsprechenden Technologie, auch die gedankliche Verwendung von „E-Wörtern“ der Steuerpflicht unterliegt.
Die durch die Abschaffung der bis dato erhobenen Steuern beschäftigungslos gewordenen Finanzbeamten werden nun ausschließlich dafür eingesetzt, sämtlichen Schriftverkehr auf abgabepflichtige Wörter zu untersuchen, sowie auf allen öffentlichen Plätzen, an Bahnhöfen, in Sportstadien, kulturellen Treffpunkten und Begegnungsstätten jeglicher Art alle zwischenmenschlichen Gespräche zu belauschen und ggf. gleich die fällige Steuer bar abzukassieren.
Der Finanzminister zeigte seine ganze Cleverness, indem er als Pressemitteilung gleich folgende Überschrift spontan vorformulierte:
„Fortschritt durch Rot-grün – Finanzaktion mal ganz innovativ!“
Der einfache Staatsbürger wird sicherlich etwas mehr Zeit benötigen, um seinen Sprachgebrauch den neuen steuerlichen Gegebenheiten anzupassen und sich einen kostenbewussten Sprachschatz anzueignen.
Sonst wird’s zukünftig finanzmäßig sehr teuer ...-pardon: spürbar unbillig natürlich!

Thomas Rüger