Ein bayrisches Märchen

Klein Edi fiel erschöpft ins Bett. Heute Nacht schlief er sogar sofort ein, sonst träumte er gerne im Halbdämmerzustand über seine Zukunft.
Er wollte mal groß hinaus, damit endlich die Bekannten damit aufhörten, ihn permanent und penetrant mit „Klein Edi“ anzureden.
Ja, Edi hatte wahrlich eine harte Kindheit zu meistern. Mit einer scharfen Axt musste er früh morgens Kohlebriketts hacken, damit abends der kleine Wohnzimmerofen wohlige Wärme verbreiten konnte.
Doch diese Axt benutzte er, seit er in die Schule ging, auch dafür, sein blondes Haar zu scheiteln.
Ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen, wenigstens säuberte er die Axt jedesmal vorher mit quellfrischem Brunnenwasser. Hygiene muss schließlich sein!
Edi war sehr ehrgeizig. Schon in der ersten Klasse klemmte er sich ständig Ordner unter seine Arme. Denn das Lesen von Papieren war schnell seine Lieblingsbeschäftigung.
Er begann sogar damit, die Rundschreiben der Schuldirektorin zu korrigieren. Doch investierte er dafür soviel Zeit, dass er kaum mehr Briketts spalten konnte.
Sein Vater war darüber sehr erbost und ermahnte Edi, den angehäuften Berg an Briketts abzuarbeiten: „Kümmere Dich besser um den Reformstau in unserem Hof als um die Schulreformen Deiner Direktorin!“
Für Edi war es völlig unverständlich, dass sein Vater sein neues Engagement so abschätzig beurteilte.
Süffisant setzte der Vater noch eins drauf: „Wenn Du Dich nicht mehr um die Brikett kümmern kannst, dann soll es halt ‚die da‘ (damit war natürlich die Direktorin gemeint) tun!“
Trotz dieser heftigen Dispute schaffte es Edi, eines Tages – immer noch mit der Axt sein blondes Haar scheitelnd – seine Kindheit und die Abhängigkeit von seinen Eltern hinter sich zu lassen.
Mit Hilfe seiner scharfen Axt schaffte er es auch ohne Meister-Bafög, seine Lehrlingsjahre mit einem Meisterdiplom abzuschließen.
Wie ein Blitz stieg er auf der Karriereleiter immer mehr nach oben.
Als er Karin kennenlernte, machte diese sich anfangs sehr lustig über seine Marotte, die Haare mit einer Axt zu scheiteln.
Nachdem er ihr einen ersten Kuss schüchtern und verlegen auf die linke Backe gedrückt hatte, war ihm dies sehr, sehr peinlich.
Aus zwei Gründen:
Zum einen fand er, wäre es doch viel besser gewesen, die rechte Backe für den ersten Kuss auszuwählen. Zum zweiten befanden sie sich auf einer Liegewiese, wo sich halb Wolfratshausen über ihre Turtelei amüsierte.
Aber trotz alledem: Edi war auf dem besten Wege, seine Mitmenschen davon zu überzeugen, ihn nicht mehr „Klein Edi“ zu nennen.
Und ganz verlegen meinte Edi zu Karin: „Glaubst Du, dass ein Bundeskanzler ausgelacht wird, der in seiner Hose keinen Kamm, sondern eine Axt eingesteckt hat?“
„Ach Edi“, seufzte Karin, „bleib doch lieber in Bayern, da akzeptieren sie solche Marotten viel eher!“
Und wenn sie nicht gestorben sind ...