Trotzdem

Der Zug, den ich am Nürnberger Hauptbahnhof besteige, hat kurz vor Schwabach „leider einen außenplanmäßigen Halt wegen einer Triebwerksstörung“.
Dennoch bin ich, wenngleich mit einer guten Viertelstunde Verspätung, in der der Rother „Kulturfabrik“ zur monatlichen Schreibgruppe der aphoristischen Gerontokraten eingetrudelt.
Nachdem ich auf einem Schreibstuhl fixiert bin, beginne ich auftragsgemäß eine Geschichte zu schreiben. Der Herr der dunklen Worte wünscht eine Geschichte mit dem Titel „Trotzdem“.
Vor mir auf dem Tisch liegt weißes Schreibpapier. Ich schreibe, vielmehr ich versuche zu schreiben. Doch sobald ich ein Wort aufnotiert habe, verschwindet es wieder.
Ich reibe mir verdutzt die Augen, nehme den Stift fester in die Hand. Ein neuer Anlauf…
Doch ich komme nicht über ein Wort hinaus.
Ich blicke mich im Raum um. Die anderen Insassen der Schreibanstalt fokussieren ihren Schreibblock, ihre Stifte speien Wörter ohne Ende auf das Papier.
Zeile um Zeile, Seite um Seite füllen sich.
Während das nicht zu beschreibende Weiß meines Papiers beginnt, meine Augen zu blenden. Ich schließe daher die Augen. Ich weiß, ich muss jetzt ruhig Blut bewahren. Denn ich muss eine Geschichte am Ende der Schreibseance abliefern. Ansonsten droht mir eine Spritze.
Doch ich will keine Spritze. Und auch keine bösen Blicke vom Herrn der dunklen Worte ernten.
Verzweifelt überlege ich, was passiert sein kann.
Da fallen mir die zwei Russen ein, die mir im Zugabteil gegenüber saßen.
Der eine, leidlich Deutsch sprechend, kontrollierte den Inhalt seiner Geldbörse. Der andere versuchte, sein Handy aus der Jackentasche zu ziehen. Doch er schaffte es nicht, sondern schlief mitten in dieser Bewegung ein.
Auch sein Nebenmann war nun eingeschlafen, die Geldbörse offen in der Hand.
Der rothaarige Russe mit dem Handy kippte derweil auf meine Tasche. Sein Nebenmann öffnete die Augen und entschuldigte sich bei mir.
War dies nur ein fauler Trick? Wurde auf diese hinterhältige Weise mein Stift manipuliert?
War die Triebwerksstörung durch das Handy ausgelöst worden?
Zwei vermeintlich schlafende Russen im Zug sabotieren mein Schreibwerkzeug. Doch wer wird mir diese Geschichte abnehmen?
Zu lesen ist sie ja ohnehin nicht auf meinem Papier. Trotzdem ist sie wahr…