Weise Gedanken

Weise Gedanken.
Alles fließt. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Weise Gedanken.
Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben.
Weise Gedanken.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
Weise Gedanken.
Aber was ist mit dem Schreiben? Wenn du geschrieben hättest, wärst du ein Philosoph geblieben. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Alles verdrießt. Man kann nicht zweimal über denselben Redefluss schreiben.
Weise Gedanken.
Wenn du geschrieben hättest, wärst du ein Fluss geblieben. Alles schweigt. Man kann nicht zweimal in denselben Philosophen steigen. Silber ist Gold. Weise Gedanken sind Schweigen. Wenn der Fluss geblieben wäre, wärst du in Silber gestiegen.
Alles redet. Der Fluss ist Philosoph. Silber und Gold sind zweimal dasselbe.
Weise Gedanken.
Der Fluss redet. Silber schweigt. Der Philosoph vergoldet ... Die Rede fließt. Das Schweigen wird versilbert, das Gold philosophiert. Man kann nicht zweimal in denselben Gedanken steigen. Wenn der schweigsame Fluss geredet hätte, wären silberne Gedanken Gold geblieben.
Alles verfließt. Der Philosoph steigt zweimal in den goldenen Fluss und verschweigt seine weisen Gedanken. Aber was ist mit dem Reden? Der Philosoph schweigt weise, Silber denkt an Gold. Der Fluss steigt zweimal in denselben Gedanken.
Aber was bleibt?
Weise Gedanken ...

Einfach...

Einfach mal abschalten. Das sagt bzw. schreibt sich so leicht, als ob das Leben ein Film wäre, der jederzeit mit der Fernbedienung zu unterbrechen wäre.
Einfach nur die "Pause"-Taste drücken. All die beruflichen und Alltagssorgen vergessen - auf der Fernbedienung den hierzu passenden "Vergessen" - Knopf drücken.
Doch zu viele Gedanken lassen dich nicht los. Du würdest ja gerne, aber da wäre noch dieses oder jenes, ja am besten beides zu erledigen.
Ehe du dich versiehst, sind allerdings schon wieder neue Aufgaben zu erledigen.
Der moderne Sisyphos rollt keine Steine mehr hoch. Er schreibt Aufgabenlisten.
Und weil es auf Englisch schöner und wichtiger klingt, notieren wir uns eben regelmäßig sogenannte Tasklists.
Wir managen unser Leben. Dabei spiegelt die Fülle einer Tasklist die uns selbst zugeschriebene Relevanz wider.
Irgendwann nimmt uns Gevatter Tod den Stift aus der Hand. Die Mission von Sisyphos hat sich erledigt. Aber war dieses Leben dann erfüllt...?!
Wollten wir nicht mal abschalten... und einfach nur leben?

Hitze

Was sind wir nur für ein vom Schicksal missgünstig behandeltes Volk? Kaum werden die Tage kürzer und die Nächte kühler, verlieren die Laubbäume ihr Blattwerk und verschandeln Gehsteige und Hofeinfahrten.
Irgendwann, wenn die Tage noch kürzer und die Nächte richtig kalt sind, lassen wir die Zentralheizung auf Höchststufe laufen und ziehen uns ein Eisbärenfell über die kälteempfindlichen Ohren.
So weit, so schlecht. Doch es kommt noch schlimmer. Urplötzlich ruft der Frühling - und während die Tage wieder länger werden, ist das Wetter entweder viel zu trocken oder viel zu feucht. Wochenlang zittert der Landwirtschaftsminister am Feldesrand und verfolgt das Gedeihen oder Verderben des pflanzlichen Saatgutes.
Die Altvorderen behaupten ja, dass es früher anders und damit besser war. Heutzutage gibt es nach einem freundlichen Frühlingserwachen einen abrupten Wechsel in eine Periode des Temperaturzwiespalts. Nicht warm, nicht kalt, nicht trocken, nicht feucht - streng genommen leiden wir unter der Tristesse eines gar nicht vorhandenen Wetters. Das ist sozusagen die deutsche Variante der globalen Klimakatastrophe.
Ein Volk lechzt nach Sonnenschein und erhält recyceltes Wetter vom Wertstoffhof. Solch ein Volk kann auch keinen European Song Contest gewinnen! Es wird auf das Frevelhafteste gedemütigt und gepeinigt..
Und dann kommt das dicke Ende. Der Sommer, in früheren Geschichtsepochen eine Jahresszeit mit der Dauer von ziemlich genau drei Monaten, zieht wie ein heißer Wüstenwind über das Land. Die letzten Ventilatoren werden über Ebay zu Preisen gehandelt, als wären sie von Leonardo da Vinci handgefertigt und von Vincent van Gogh bemalt.
Schüler und Lehrer, die größten Sklaven und Sklaventreiber hierzulande, trifft es dann am schlimmsten. Der Hitzefrei-Gong ertönt und sie stehen, zwangsweise von der Schule exmittiert, am Rande der physischen wie psychischen Existenz, und werden in die sozialpädagogische Ganztagesbetreuung eingeliefert, wo Sonnenblumen gemalt, getöpfert und gebatikt werden.
Die Büromenschen dagegen versuchen verzweifelt wie vergeblich, mit der PC-Tastenkombination "Steuerung-Entfernen" die Hitze zu eliminieren. Doch die Hitze lässt sich nicht bändigen. Noch nicht einmal von der Kanzlerin, die sich zur Rettung des vereinigten Landes in den klimatisierten, sonnenstrahl-resistenten Regierungsbunker zurückzieht.
Die restliche Bevölkerung verzweifelt im Schweiße ihres Angesichts. Das 24-Stunden-Deodorant verliert seinen Effekt in Sekundenschnelle. Die Gehirnzellen der intellektuellen Elite, auch so etwas soll es zwischen Trier und Frankfurt/Oder geben, verschwurbeln wie Bratöl in der Pfanne. Die Massenmedien organisieren Durchhaltekampagnen, um das Überleben Deutschlands in der intersolaren Hitzeschlacht sicherzustellen.
Ja, so sind die Deutschen seit tausend Jahren: zäh wie Zeder und smart wie Wollschal ...

Sammlerwut

Eigentlich wollte ich diesen Tag mit einer Panzerfaust beenden. Kein gemütlicher Fernsehabend im Wohnzimmersessel, wo der chipstütengeschwängerte Bauch sein tägliches Abendmahl auf einem intelligenzgeminderten Kanal begeht.
Man muss seine Abscheu vor dieser Welt lauthals inszenieren. Nicht mit einem trockenen Wein, rasiermesserscharf im Abgang, aber ohne nachhaltige Nebenwirkungen, keine zarten Schnittchen mit glibberigen Fischeiern und zum Nachtisch einen vollen Schweinetrog mit Mousse au Chocolat.
Nein und nochmals nein. Es muss schon ein Attentat sein, es muss Blut fließen. Echtes Blut, kein roter Rebensaft aus der Sakristei.
Es könnte auch eine Stalinorgel sein, die über mehrere Oktaven hinweg eine melodische Todesfuge erklingen lässt.
Es dürfen ruhig Kollateralschäden in Betracht gezogen werden.
Ein dreifaches Helau, wenn das in krankhafter Sammlerwut erstandene Sonntagsnachmittagskaffeeservice in subatomare Bestandteile zersplittert.
Dem deutschen Wohlstandsmichel widerstrebt die Chaosforschung, eine wissenschaftliche Richtung, die zu erklären vermag, warum ein flügellahmer Schmetterling in Nürnberg-Langwasser einen Tsunami in Ostasien auslösen kann.
Doch mit einem Sixpack Molotowcocktails kann so manche Expertenseele von ihrem Wissensdurst befreit werden. Nein, das ist keine kalkulierte Provokation, kein wohl inszenierter Verstoß gegen das deutsche Sittlichkeitsgebot.
Eigentlich wollte ich diesen Tag mit einer Panzerfaust beenden. Und wenn ich dann hinterher vor dem Internationalen Strafgerichtshof Rechenschaft ablegen muss, werde ich auf Notwehr plädieren.
Eigentlich ...
Doch stattdessen sitze ich an einem resopalkontaminierten Tischchen, mit einem Stift in der Hand.
Der Kugelschreiber ist die Panzerfaust des schreibenden Menschen...?!
Schön wäre es...
Eigentlich passt doch alles so, wie es ist. Die Wut ist verraucht, die Panzerfaust wird im Keller verstaut. Und nächste Woche bekommt Tante Frieda wieder eine neue Sammlertasse!

Horizont

In unserer Wohlfühlgesellschaft heißt die oberste Etikette: Macht nichts, was schlechte Laune verbreitet!
Griesgrämigkeit, Grantlertum, Bärbeißigkeit – all diese Attitüden sind jenseits des Horizonts.
Wer sich von den Gute-Laune-Radiosendern nicht infizieren lässt, kann auch die Dienste professioneller und gut dotierter Lebensberater in Anspruch nehmen.
Monatskalender mit wohlfeilen Sprüchen belagern die Krabbeltische der Buchhandlungen: „Ein Tag, an dem Du nicht lächelst, ist ein verlorener Tag.“
Kilometerlang sind die Buchregale voller unverzichtbarer Ratgeber. Und sie haben wahrlich verheißungsvolle Titel: „Nichts im Kopf und trotzdem gut drauf!“ oder „Das Buch der Wohlfühlkonsonanten“ oder „Glückspilze wuchern nicht nur in Tschernobyl“.
Wir schaffen unser privates Kuschelreich. Die asiatische Philosophie hilft uns dabei, unser Karma nicht in Gefahr zu bringen.
Sphärenklänge wabern durch das Wohnzimmer. Selbst unser Tinnitus ähnelt dem wohligen Sound von Klangschalen. Schmerbäuchige Buddhas, handgeschnitzt von tibetischen Kleinkinderhänden, grinsen grenzdebil im Kerzenschein. In unseren Nasenlöchern glimmen derweil Räucherkerzen.
Doch solange unser Geist nicht völlig benebelt ist, keimt in den hintersten Windungen des Stammhirns die Vorstellung von einem anderen Leben.
Ein neuer Horizont zeichnet sich schemenhaft ab. Kein anständiger Mensch möchte dort wohnen. Und doch, ganz selten, erwacht in dir diese Leidenshaft, die die Farbtöne deiner Wahrnehmung fundamental ändert.
Aus dem originellen Kauz wird ein ordinärer Kotzbrocken, das Dauergrinsen deiner Umwelt wird als gemeingefährliche Nötigung empfunden.
Du pochst dann auf deine schlechte Laune, es gibt ein Grundrecht auf Miesepetertum.
Statt fein ziselierter Glöcklein lässt du dann in ultimativer Lautstärke die „Hell’s Bells“ erklingen.
Und du weißt: Ein Tag, an dem dir nicht die Galle überläuft, ist ein verlorener Tag-

Schreibwut

Wir schreiben Geschichten. Oder sollte ich besser formulieren: Wir schreiben Geschichte…?!
Natürlich klingt letztgenannte Variante attraktiver. Doch welche Wirkung unsere Produkte zeitigen, können wir gar nicht beurteilen.
Geschichte ist ein Prozess, bei dem sozusagen die Sahnetore von innen aufgerollt wird.
Zugegeben, Metaphern sind nicht meine Stärke. Backen allerdings auch nicht…
Fakt ist, ich bin Teil einer Gruppe von Menschen, die schreiben.
Wir schreiben Geschichten. Damit wären wir wieder am Anfang.
Doch der Anfang … ja, was war eigentlich der Anfang?
Am Anfang war das Wort. Oder waren es nur einzelne Buchstaben, die darauf warteten, Teil einer Geschichte zu werden?
Ich bin auch ein Teil. Teil einer Gruppe. Wir sind gefangen. Nein, das ist jetzt keine Metapher. Wir sind tatsächlich eingeschlossen.
Hermetisch abgeschlossen vom Rest der Welt.
Rest der Welt … wie lächerlich das klingt.
Fakt ist, die Welt ist irgendwo außerhalb - und wir sind der Rest.
Der schreibende Rest. Denn unsere Gruppe scheibt. Nicht als Kollektiv. Jede einzelne Person schreibt.
Früher haben wir uns die Geschichten gegenseitig vorgelesen. Erst dann gaben wir sie ab.
Was passiert wohl mit unseren Geschichten?
Wir wissen es nicht ... oder habe ich es nur vergessen?
Fakt ist, ganz am Anfang war diese Anzeige.
Da war ich noch nicht Teil dieser Gruppe.
Schreibwut hieß es in dieser Anzeige. Ja, Menschen mit Schreibwut wurden gesucht. Haben sich viele daraufhin gemeldet? Ich weiß es nicht…
Jedenfalls habe ich mich berufen gefühlt. Alle Interessenten wurden vorgeladen, mussten vorsprechen, vorschreiben.
Mut zur Schreibwut oder Wut zum Schreibmut.
Lächerlich…
Ein lächerliches Wortspiel war mein Geschichtenaufhänger. Im Nachgang einfach nur hochnotpeinlich.
Aber ich wurde aufgenommen. Trotzdem? Gerade deshalb? Mangels Alternativen?
Fakt ist: Ich bin Teil dieser Schreibgruppe geworden.
Uns wurde ein Raum zugewiesen … praktisch und schlicht.
Wir schreiben Geschichten. Seitdem …
Jede Person auf ihre Art. Doch ich nehme sie kaum mehr wahr. Die anderen…
Ich wüsste auf Anhieb gar nicht zu sagen, wie viele wir eigentlich sind.
Ich bin genügsam geworden. Selbstgenügsam.
Und natürlich meine Geschichten.
Ich bringe sie zu Papier und gebe sie ab.
Früher fragte ich mich, was sie mit meinen Geschichten machen.
Jetzt nicht mehr.
Ich blicke nicht mehr zurück, blicke auch nicht mehr nach vorne.
Ich blicke nur noch auf das Papier … und schreibe Geschichten.