Hände hoch

Der erste Besuch in der wöchentlichen Krabbelgruppe war für Klein-Alex ein einschneidendes Erlebnis.
Nachdem es der über alles geliebten Mami nur mit Müh und Not und vielen Tränen gelungen war, den Eineinhalbjährigen erstmals in fremder Obhut für einen Vormittag zu belassen, war die spannende Frage, mit welchen Sinneseindrücken er aus dieser Kleinkindergruppe zurückkommen würde.
Die Eltern staunten nicht schlecht, als er sich nach der Rückkehr im häuslichen Wohnzimmer postierte. Er nahm beide Hände hoch, zählte schnell „eins, zwei, drei, vier“ und begann dann das Lied „ Aram samsam, Aram samsam“ mit Inbrunst zu intonieren.
Das Lied schien intensiv einstudiert worden zu sein, selbst choreographische Mittel wie Hände klatschen und sich um die eigene Achse drehen konnte er mühelos reproduzieren.
Angeblich stammt das Lied aus Marokko. Die Herkunftsfrage war jedenfalls sekundär, wenn es um das Einschlafen von Klein-Alex ging. Denn seit Kenntnis dieses Liedes wurde das Einschlafen zu einem halbstündigen Singritual, was das Babyphone in bester Digitalqualität aus dem dunkel gehaltenen Kinderzimmer ins hell erleuchtete, aber an sich nun kinderlose Wohnzimmer übertrug.
Ungeklärt bleibt die Frage, ob mit dieser kreativen Schöpfung nicht in Wahrheit die Unterwerfung der Elternschaft durch interkulturelles Liedgut beabsichtigt war.
Was anfangs noch für begeistertes Mitklatschen sorgte, entwickelte sich langsam, aber stetig zu einem familiären Albtraum. Kaum war Besuch da, wurden die Gäste jeweils nach demselben Schema begrüßt: Hände hoch, „eins, zwei, drei, vier“ und dann „Aram samsam…“.
Sämtliche Anrufer wurden mit diesem Lied beglückt, die Briefträgerin, der Paketpostbote, die Nachbarn sowieso, und wäre der örtliche Polizeichef eines Tages vor der Tür gestanden, dann hätte er es auch erlebt: Hände hoch…
Zwischenzeitlich hatte der Vater im Internet recherchiert: „Aram samsam…“ gab es in unzähligen Versionen und Varianten, als Comicdarbietung wie auch als dröge Vorstellung einer vermeintlichen Pädagogik-Expertin.
Die Eltern stellten jedenfalls zwischenzeitlich Überlegungen an, die Performance von Klein-Alex in klingende Münze zu verwandeln. Im nächsten Sommer sollte der Sohnemann in der Fußgängerzone postiert werden, ein Hut für Spenden daneben – und dann konnte er loslegen.
Vorher musste aber die kalte Jahreszeit überstanden werden. Wenn Klein Alex, ohne Hut, täglich mehrfach im Wohnzimmer auftrat. Hände hoch…