Sonderzeit

Pfeifen...

Pfiffe hallen durch das Land. An allen Ecken und Enden stehen Menschen auf. Widersteht dem Bösen, lautet die Parole.
Es sind maliziöse Gegner, die sich auch durch lautstarkes Pfeifen nicht in die Flucht schlagen lassen.
Gemein und gefährlich scheint ihre Wesensbestimmung zu sein.
Immer wieder tauchen sie auf, einzeln oder auch in größeren Gruppen.
Die Herausforderung besteht darin, sie nicht nur zu identifizieren, sondern auch zu eliminieren. Doch die Erfolgsquote ist bis dato gleich Null. Die Haftbefehle der Staatsanwaltschaft sind bloße Papiertiger.
Die Kanzlerin vertraut der Kraft der Raute, der Innenminister hat den Verfassungsschutz eingeschaltet, die Agenten des Bundesnachrichtendienstes streuen die Vermutung, dass IS und Al Quaida dahinterstecken.
Es mutet unglaublich an: Gestandene Schwerverbrecher, ja professionelle Killer zerstören mit ihrem verderblichen und schändlichen Wirken jeglichen friedlichen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Die Furcht begleitet uns im Alltag, es kann uns jederzeit und allerorten widerfahren.
Doch so viel Unheil sie auch schon angerichtet haben, es gelingt einfach nicht, sie unschädlich zu machen.
Die Fahndungsliste des Bundeskriminalamtes wird beinahe täglich erweitert. Der Terror im Alltag scheint keine Nachwuchssorgen zu kennen.
"Das klappt ja doch nicht ..."
"Uns fehlen hierfür Zeit und Geld ..."
"Das Leben ist kein Ponyhof ..."
"Das haben wir schon immer so gemacht ..."
oder:
"Das muss man doch mal sagen dürfen..."
Das sind fünf besonders bösartige Kriminelle.
Es sind gefährliche Killerphrasen, die die Fantasie und den Mut zum Andersdenken und -handeln abtöten.
Doch es gibt noch viele hundert weitere solcher Killerphrasen!
Und keine einzige lässt sich durch noch so lautstarkes Pfeifen aus der Welt schaffen.

Trotzdem

Der Zug, den ich am Nürnberger Hauptbahnhof besteige, hat kurz vor Schwabach „leider einen außenplanmäßigen Halt wegen einer Triebwerksstörung“.
Dennoch bin ich, wenngleich mit einer guten Viertelstunde Verspätung, in der der Rother „Kulturfabrik“ zur monatlichen Schreibgruppe der aphoristischen Gerontokraten eingetrudelt.
Nachdem ich auf einem Schreibstuhl fixiert bin, beginne ich auftragsgemäß eine Geschichte zu schreiben. Der Herr der dunklen Worte wünscht eine Geschichte mit dem Titel „Trotzdem“.
Vor mir auf dem Tisch liegt weißes Schreibpapier. Ich schreibe, vielmehr ich versuche zu schreiben. Doch sobald ich ein Wort aufnotiert habe, verschwindet es wieder.
Ich reibe mir verdutzt die Augen, nehme den Stift fester in die Hand. Ein neuer Anlauf…
Doch ich komme nicht über ein Wort hinaus.
Ich blicke mich im Raum um. Die anderen Insassen der Schreibanstalt fokussieren ihren Schreibblock, ihre Stifte speien Wörter ohne Ende auf das Papier.
Zeile um Zeile, Seite um Seite füllen sich.
Während das nicht zu beschreibende Weiß meines Papiers beginnt, meine Augen zu blenden. Ich schließe daher die Augen. Ich weiß, ich muss jetzt ruhig Blut bewahren. Denn ich muss eine Geschichte am Ende der Schreibseance abliefern. Ansonsten droht mir eine Spritze.
Doch ich will keine Spritze. Und auch keine bösen Blicke vom Herrn der dunklen Worte ernten.
Verzweifelt überlege ich, was passiert sein kann.
Da fallen mir die zwei Russen ein, die mir im Zugabteil gegenüber saßen.
Der eine, leidlich Deutsch sprechend, kontrollierte den Inhalt seiner Geldbörse. Der andere versuchte, sein Handy aus der Jackentasche zu ziehen. Doch er schaffte es nicht, sondern schlief mitten in dieser Bewegung ein.
Auch sein Nebenmann war nun eingeschlafen, die Geldbörse offen in der Hand.
Der rothaarige Russe mit dem Handy kippte derweil auf meine Tasche. Sein Nebenmann öffnete die Augen und entschuldigte sich bei mir.
War dies nur ein fauler Trick? Wurde auf diese hinterhältige Weise mein Stift manipuliert?
War die Triebwerksstörung durch das Handy ausgelöst worden?
Zwei vermeintlich schlafende Russen im Zug sabotieren mein Schreibwerkzeug. Doch wer wird mir diese Geschichte abnehmen?
Zu lesen ist sie ja ohnehin nicht auf meinem Papier. Trotzdem ist sie wahr…

Mauer

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, sagte dereinst der Gottvater der Psychoanalyse Sigmund F. Und daher braucht er Mauern. Mauern, die sein Leben in Schranken weisen und den Blick in geordnete Bahnen lenken.
Den Rundumblick gönnen wir großzügigerweise manchen als niedere Tiere eingestuften Insekten.
Der Mensch strebt schon immer nach Höherem. Mit Flugzeugen werden kontinentale Distanzen zum Tagestrip.
Und doch bedarf es immer noch und immer wieder Mauern.
Jenseits des Limes wohnten dereinst die Barbaren. Heutzutage dienen Mauern der Abwehr und Abschottung. Sie sollen uns vor bösen Menschen mit hungrigen Bäuchen bewahren.
Die kommen einfach, obwohl wir sie gar nicht eingeladen haben.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, sagte dereinst der Gänsehüter Konrad L. Im Fußball gilt „mauern“ als probates Mittel gegen einen übermächtig erscheinenden Gegner.
Im Laufe unseres Erwachsenwerdens mauern wir uns auch immer mehr ein. Als Kind wollten wir noch Neues entdecken, träumten von fernen Ländern und Abenteuern.
Jetzt ziehen wir uns zurück.
Die sogenannten sozialen Netzwerke bescheren uns eine Unmenge an Freunden, mit denen wir gefahrlos in Kontakt treten können, ohne dass sie uns den Wohnzimmerboden versauen.
Permanent prasseln Nachrichten und Botschaften von jenseits der Mauern auf uns ein. Wir lesen sie aufmerksam und sind besorgt – besorgt darüber, wie lange die Mauern unsere Existenz noch schützen…

Zu wenig

Es ist fast immer zu wenig
Und nur selten zu viel
Das Leben ist ungerecht
Es ist viel zu oft Ernst
Und selten ein Spiel
Es endet doch meistens schlecht

Es mangelt an Stehvermögen
Und vermisst wird das Gleichgewicht
Das Leben fällt zunehmend schwer
Die richtige Dosis ist ein hehres Ziel
Es grinst der Schmerz im Gesicht
Die Zukunft ist mehr als prekär

Es ist fast immer zu wenig
Und nur selten zu viel
Das Leben ist ungerecht
Es ist viel zu oft Ernst
Und selten ein Spiel
Es endet doch meistens schlecht

Weise Gedanken

Weise Gedanken.
Alles fließt. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Weise Gedanken.
Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben.
Weise Gedanken.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
Weise Gedanken.
Aber was ist mit dem Schreiben? Wenn du geschrieben hättest, wärst du ein Philosoph geblieben. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Alles verdrießt. Man kann nicht zweimal über denselben Redefluss schreiben.
Weise Gedanken.
Wenn du geschrieben hättest, wärst du ein Fluss geblieben. Alles schweigt. Man kann nicht zweimal in denselben Philosophen steigen. Silber ist Gold. Weise Gedanken sind Schweigen. Wenn der Fluss geblieben wäre, wärst du in Silber gestiegen.
Alles redet. Der Fluss ist Philosoph. Silber und Gold sind zweimal dasselbe.
Weise Gedanken.
Der Fluss redet. Silber schweigt. Der Philosoph vergoldet ... Die Rede fließt. Das Schweigen wird versilbert, das Gold philosophiert. Man kann nicht zweimal in denselben Gedanken steigen. Wenn der schweigsame Fluss geredet hätte, wären silberne Gedanken Gold geblieben.
Alles verfließt. Der Philosoph steigt zweimal in den goldenen Fluss und verschweigt seine weisen Gedanken. Aber was ist mit dem Reden? Der Philosoph schweigt weise, Silber denkt an Gold. Der Fluss steigt zweimal in denselben Gedanken.
Aber was bleibt?
Weise Gedanken ...

Einfach...

Einfach mal abschalten. Das sagt bzw. schreibt sich so leicht, als ob das Leben ein Film wäre, der jederzeit mit der Fernbedienung zu unterbrechen wäre.
Einfach nur die "Pause"-Taste drücken. All die beruflichen und Alltagssorgen vergessen - auf der Fernbedienung den hierzu passenden "Vergessen" - Knopf drücken.
Doch zu viele Gedanken lassen dich nicht los. Du würdest ja gerne, aber da wäre noch dieses oder jenes, ja am besten beides zu erledigen.
Ehe du dich versiehst, sind allerdings schon wieder neue Aufgaben zu erledigen.
Der moderne Sisyphos rollt keine Steine mehr hoch. Er schreibt Aufgabenlisten.
Und weil es auf Englisch schöner und wichtiger klingt, notieren wir uns eben regelmäßig sogenannte Tasklists.
Wir managen unser Leben. Dabei spiegelt die Fülle einer Tasklist die uns selbst zugeschriebene Relevanz wider.
Irgendwann nimmt uns Gevatter Tod den Stift aus der Hand. Die Mission von Sisyphos hat sich erledigt. Aber war dieses Leben dann erfüllt...?!
Wollten wir nicht mal abschalten... und einfach nur leben?

Hitze

Was sind wir nur für ein vom Schicksal missgünstig behandeltes Volk? Kaum werden die Tage kürzer und die Nächte kühler, verlieren die Laubbäume ihr Blattwerk und verschandeln Gehsteige und Hofeinfahrten.
Irgendwann, wenn die Tage noch kürzer und die Nächte richtig kalt sind, lassen wir die Zentralheizung auf Höchststufe laufen und ziehen uns ein Eisbärenfell über die kälteempfindlichen Ohren.
So weit, so schlecht. Doch es kommt noch schlimmer. Urplötzlich ruft der Frühling - und während die Tage wieder länger werden, ist das Wetter entweder viel zu trocken oder viel zu feucht. Wochenlang zittert der Landwirtschaftsminister am Feldesrand und verfolgt das Gedeihen oder Verderben des pflanzlichen Saatgutes.
Die Altvorderen behaupten ja, dass es früher anders und damit besser war. Heutzutage gibt es nach einem freundlichen Frühlingserwachen einen abrupten Wechsel in eine Periode des Temperaturzwiespalts. Nicht warm, nicht kalt, nicht trocken, nicht feucht - streng genommen leiden wir unter der Tristesse eines gar nicht vorhandenen Wetters. Das ist sozusagen die deutsche Variante der globalen Klimakatastrophe.
Ein Volk lechzt nach Sonnenschein und erhält recyceltes Wetter vom Wertstoffhof. Solch ein Volk kann auch keinen European Song Contest gewinnen! Es wird auf das Frevelhafteste gedemütigt und gepeinigt..
Und dann kommt das dicke Ende. Der Sommer, in früheren Geschichtsepochen eine Jahresszeit mit der Dauer von ziemlich genau drei Monaten, zieht wie ein heißer Wüstenwind über das Land. Die letzten Ventilatoren werden über Ebay zu Preisen gehandelt, als wären sie von Leonardo da Vinci handgefertigt und von Vincent van Gogh bemalt.
Schüler und Lehrer, die größten Sklaven und Sklaventreiber hierzulande, trifft es dann am schlimmsten. Der Hitzefrei-Gong ertönt und sie stehen, zwangsweise von der Schule exmittiert, am Rande der physischen wie psychischen Existenz, und werden in die sozialpädagogische Ganztagesbetreuung eingeliefert, wo Sonnenblumen gemalt, getöpfert und gebatikt werden.
Die Büromenschen dagegen versuchen verzweifelt wie vergeblich, mit der PC-Tastenkombination "Steuerung-Entfernen" die Hitze zu eliminieren. Doch die Hitze lässt sich nicht bändigen. Noch nicht einmal von der Kanzlerin, die sich zur Rettung des vereinigten Landes in den klimatisierten, sonnenstrahl-resistenten Regierungsbunker zurückzieht.
Die restliche Bevölkerung verzweifelt im Schweiße ihres Angesichts. Das 24-Stunden-Deodorant verliert seinen Effekt in Sekundenschnelle. Die Gehirnzellen der intellektuellen Elite, auch so etwas soll es zwischen Trier und Frankfurt/Oder geben, verschwurbeln wie Bratöl in der Pfanne. Die Massenmedien organisieren Durchhaltekampagnen, um das Überleben Deutschlands in der intersolaren Hitzeschlacht sicherzustellen.
Ja, so sind die Deutschen seit tausend Jahren: zäh wie Zeder und smart wie Wollschal ...

Sammlerwut

Eigentlich wollte ich diesen Tag mit einer Panzerfaust beenden. Kein gemütlicher Fernsehabend im Wohnzimmersessel, wo der chipstütengeschwängerte Bauch sein tägliches Abendmahl auf einem intelligenzgeminderten Kanal begeht.
Man muss seine Abscheu vor dieser Welt lauthals inszenieren. Nicht mit einem trockenen Wein, rasiermesserscharf im Abgang, aber ohne nachhaltige Nebenwirkungen, keine zarten Schnittchen mit glibberigen Fischeiern und zum Nachtisch einen vollen Schweinetrog mit Mousse au Chocolat.
Nein und nochmals nein. Es muss schon ein Attentat sein, es muss Blut fließen. Echtes Blut, kein roter Rebensaft aus der Sakristei.
Es könnte auch eine Stalinorgel sein, die über mehrere Oktaven hinweg eine melodische Todesfuge erklingen lässt.
Es dürfen ruhig Kollateralschäden in Betracht gezogen werden.
Ein dreifaches Helau, wenn das in krankhafter Sammlerwut erstandene Sonntagsnachmittagskaffeeservice in subatomare Bestandteile zersplittert.
Dem deutschen Wohlstandsmichel widerstrebt die Chaosforschung, eine wissenschaftliche Richtung, die zu erklären vermag, warum ein flügellahmer Schmetterling in Nürnberg-Langwasser einen Tsunami in Ostasien auslösen kann.
Doch mit einem Sixpack Molotowcocktails kann so manche Expertenseele von ihrem Wissensdurst befreit werden. Nein, das ist keine kalkulierte Provokation, kein wohl inszenierter Verstoß gegen das deutsche Sittlichkeitsgebot.
Eigentlich wollte ich diesen Tag mit einer Panzerfaust beenden. Und wenn ich dann hinterher vor dem Internationalen Strafgerichtshof Rechenschaft ablegen muss, werde ich auf Notwehr plädieren.
Eigentlich ...
Doch stattdessen sitze ich an einem resopalkontaminierten Tischchen, mit einem Stift in der Hand.
Der Kugelschreiber ist die Panzerfaust des schreibenden Menschen...?!
Schön wäre es...
Eigentlich passt doch alles so, wie es ist. Die Wut ist verraucht, die Panzerfaust wird im Keller verstaut. Und nächste Woche bekommt Tante Frieda wieder eine neue Sammlertasse!

Horizont

In unserer Wohlfühlgesellschaft heißt die oberste Etikette: Macht nichts, was schlechte Laune verbreitet!
Griesgrämigkeit, Grantlertum, Bärbeißigkeit – all diese Attitüden sind jenseits des Horizonts.
Wer sich von den Gute-Laune-Radiosendern nicht infizieren lässt, kann auch die Dienste professioneller und gut dotierter Lebensberater in Anspruch nehmen.
Monatskalender mit wohlfeilen Sprüchen belagern die Krabbeltische der Buchhandlungen: „Ein Tag, an dem Du nicht lächelst, ist ein verlorener Tag.“
Kilometerlang sind die Buchregale voller unverzichtbarer Ratgeber. Und sie haben wahrlich verheißungsvolle Titel: „Nichts im Kopf und trotzdem gut drauf!“ oder „Das Buch der Wohlfühlkonsonanten“ oder „Glückspilze wuchern nicht nur in Tschernobyl“.
Wir schaffen unser privates Kuschelreich. Die asiatische Philosophie hilft uns dabei, unser Karma nicht in Gefahr zu bringen.
Sphärenklänge wabern durch das Wohnzimmer. Selbst unser Tinnitus ähnelt dem wohligen Sound von Klangschalen. Schmerbäuchige Buddhas, handgeschnitzt von tibetischen Kleinkinderhänden, grinsen grenzdebil im Kerzenschein. In unseren Nasenlöchern glimmen derweil Räucherkerzen.
Doch solange unser Geist nicht völlig benebelt ist, keimt in den hintersten Windungen des Stammhirns die Vorstellung von einem anderen Leben.
Ein neuer Horizont zeichnet sich schemenhaft ab. Kein anständiger Mensch möchte dort wohnen. Und doch, ganz selten, erwacht in dir diese Leidenshaft, die die Farbtöne deiner Wahrnehmung fundamental ändert.
Aus dem originellen Kauz wird ein ordinärer Kotzbrocken, das Dauergrinsen deiner Umwelt wird als gemeingefährliche Nötigung empfunden.
Du pochst dann auf deine schlechte Laune, es gibt ein Grundrecht auf Miesepetertum.
Statt fein ziselierter Glöcklein lässt du dann in ultimativer Lautstärke die „Hell’s Bells“ erklingen.
Und du weißt: Ein Tag, an dem dir nicht die Galle überläuft, ist ein verlorener Tag-

Schreibwut

Wir schreiben Geschichten. Oder sollte ich besser formulieren: Wir schreiben Geschichte…?!
Natürlich klingt letztgenannte Variante attraktiver. Doch welche Wirkung unsere Produkte zeitigen, können wir gar nicht beurteilen.
Geschichte ist ein Prozess, bei dem sozusagen die Sahnetore von innen aufgerollt wird.
Zugegeben, Metaphern sind nicht meine Stärke. Backen allerdings auch nicht…
Fakt ist, ich bin Teil einer Gruppe von Menschen, die schreiben.
Wir schreiben Geschichten. Damit wären wir wieder am Anfang.
Doch der Anfang … ja, was war eigentlich der Anfang?
Am Anfang war das Wort. Oder waren es nur einzelne Buchstaben, die darauf warteten, Teil einer Geschichte zu werden?
Ich bin auch ein Teil. Teil einer Gruppe. Wir sind gefangen. Nein, das ist jetzt keine Metapher. Wir sind tatsächlich eingeschlossen.
Hermetisch abgeschlossen vom Rest der Welt.
Rest der Welt … wie lächerlich das klingt.
Fakt ist, die Welt ist irgendwo außerhalb - und wir sind der Rest.
Der schreibende Rest. Denn unsere Gruppe scheibt. Nicht als Kollektiv. Jede einzelne Person schreibt.
Früher haben wir uns die Geschichten gegenseitig vorgelesen. Erst dann gaben wir sie ab.
Was passiert wohl mit unseren Geschichten?
Wir wissen es nicht ... oder habe ich es nur vergessen?
Fakt ist, ganz am Anfang war diese Anzeige.
Da war ich noch nicht Teil dieser Gruppe.
Schreibwut hieß es in dieser Anzeige. Ja, Menschen mit Schreibwut wurden gesucht. Haben sich viele daraufhin gemeldet? Ich weiß es nicht…
Jedenfalls habe ich mich berufen gefühlt. Alle Interessenten wurden vorgeladen, mussten vorsprechen, vorschreiben.
Mut zur Schreibwut oder Wut zum Schreibmut.
Lächerlich…
Ein lächerliches Wortspiel war mein Geschichtenaufhänger. Im Nachgang einfach nur hochnotpeinlich.
Aber ich wurde aufgenommen. Trotzdem? Gerade deshalb? Mangels Alternativen?
Fakt ist: Ich bin Teil dieser Schreibgruppe geworden.
Uns wurde ein Raum zugewiesen … praktisch und schlicht.
Wir schreiben Geschichten. Seitdem …
Jede Person auf ihre Art. Doch ich nehme sie kaum mehr wahr. Die anderen…
Ich wüsste auf Anhieb gar nicht zu sagen, wie viele wir eigentlich sind.
Ich bin genügsam geworden. Selbstgenügsam.
Und natürlich meine Geschichten.
Ich bringe sie zu Papier und gebe sie ab.
Früher fragte ich mich, was sie mit meinen Geschichten machen.
Jetzt nicht mehr.
Ich blicke nicht mehr zurück, blicke auch nicht mehr nach vorne.
Ich blicke nur noch auf das Papier … und schreibe Geschichten.

Schloss

Müde schloss er die Augen.
Schloss...es durchzuckte ihn magisch.

Ja, ein Schloss im tiefsten Schnee oder mitten in der Wüste - ohne Zufahrtswege, alle Spuren gut verwischt.
Das wäre es doch!
Weg, weit weg von diesen drögen Alltäglichkeiten, den immergleichen Banalitäten, dem nie versiegenden Quell an Stumpfsinnigkeiten.
Die zu Betonfratzen mutierten Städte, eine Arbeitswelt, die nur im Zustand tiefster Bewusstlosigkeit zu ertragen war; Freundschaften, die inflationär die virtuellen Kommunikationswelten bevölkerten, ohne jeglichen Tiefgang.
Das Leben ein Gekommen- und Gegangenwerden; die verbleibenden Lebensjahre waren bereits fein säuberlich auf einer Resterampe aufgestapelt.
Um nicht zu verhungern, verabreichten sie das tägliche Gnadenbrot mit dicker Frustschicht.
Die Lebensperspektiven verdorrten, die Neurosen erblühten.

Er öffnete die Augen. Seine Wärter hatten Ausgang.
Klopfen und Schreien waren vergeblich.
Er betrachtete das hermetisch verriegelte Schloss.
Schloss... es durchzuckte ihn magisch.

Hände hoch

Der erste Besuch in der wöchentlichen Krabbelgruppe war für Klein-Alex ein einschneidendes Erlebnis.
Nachdem es der über alles geliebten Mami nur mit Müh und Not und vielen Tränen gelungen war, den Eineinhalbjährigen erstmals in fremder Obhut für einen Vormittag zu belassen, war die spannende Frage, mit welchen Sinneseindrücken er aus dieser Kleinkindergruppe zurückkommen würde.
Die Eltern staunten nicht schlecht, als er sich nach der Rückkehr im häuslichen Wohnzimmer postierte. Er nahm beide Hände hoch, zählte schnell „eins, zwei, drei, vier“ und begann dann das Lied „ Aram samsam, Aram samsam“ mit Inbrunst zu intonieren.
Das Lied schien intensiv einstudiert worden zu sein, selbst choreographische Mittel wie Hände klatschen und sich um die eigene Achse drehen konnte er mühelos reproduzieren.
Angeblich stammt das Lied aus Marokko. Die Herkunftsfrage war jedenfalls sekundär, wenn es um das Einschlafen von Klein-Alex ging. Denn seit Kenntnis dieses Liedes wurde das Einschlafen zu einem halbstündigen Singritual, was das Babyphone in bester Digitalqualität aus dem dunkel gehaltenen Kinderzimmer ins hell erleuchtete, aber an sich nun kinderlose Wohnzimmer übertrug.
Ungeklärt bleibt die Frage, ob mit dieser kreativen Schöpfung nicht in Wahrheit die Unterwerfung der Elternschaft durch interkulturelles Liedgut beabsichtigt war.
Was anfangs noch für begeistertes Mitklatschen sorgte, entwickelte sich langsam, aber stetig zu einem familiären Albtraum. Kaum war Besuch da, wurden die Gäste jeweils nach demselben Schema begrüßt: Hände hoch, „eins, zwei, drei, vier“ und dann „Aram samsam…“.
Sämtliche Anrufer wurden mit diesem Lied beglückt, die Briefträgerin, der Paketpostbote, die Nachbarn sowieso, und wäre der örtliche Polizeichef eines Tages vor der Tür gestanden, dann hätte er es auch erlebt: Hände hoch…
Zwischenzeitlich hatte der Vater im Internet recherchiert: „Aram samsam…“ gab es in unzähligen Versionen und Varianten, als Comicdarbietung wie auch als dröge Vorstellung einer vermeintlichen Pädagogik-Expertin.
Die Eltern stellten jedenfalls zwischenzeitlich Überlegungen an, die Performance von Klein-Alex in klingende Münze zu verwandeln. Im nächsten Sommer sollte der Sohnemann in der Fußgängerzone postiert werden, ein Hut für Spenden daneben – und dann konnte er loslegen.
Vorher musste aber die kalte Jahreszeit überstanden werden. Wenn Klein Alex, ohne Hut, täglich mehrfach im Wohnzimmer auftrat. Hände hoch…

Blätter

Unverständlich. Absolut unverständlich.

Diese Schwärmerei für Herbstblätter.

Wie sie schwelgen, diese Naturphantasten, in lyrischen Tönen, kein Reimschema bleibt davon verschont, wenn Verfärbungen die Sinne orgiastisch vernebeln.

Und so wird im Herbst reichlich Ernte eingefahren.

Immer neue Farbtöne durchdringen die beiden Gehirnhälften, mäandern innerhalb wollüstig frohlockender Synapsen, Metastasen an Metaphern zerstören den Blick für den banalen Alltag.

Herbst, das ist die Biomülltonne unter den Jahreszeiten. Doch dieser Biomüll wird unverständlicherweise literarisch erhöht und verklärt.

Abgefallene Blätter erzeugen so eine wohlige Gänsehaut. Wenn diese im Herbstwind rascheln, vibriert das Trommelfell halt- und hemmungslos.

Unverständlich. Absolut unverständlich.

Herbstblätter sind eine Belästigung ersten Ranges, welche durch jährliches Wiederauftreten rein gar nichts von ihrer redundanten Penetranz verlieren.

Ob Fußweg oder Autostraße, ob Zuggleise oder Waldtümpel…

Ekelerregend sammeln sie sich zigbillionenfach an und verschandeln jegliche Landschaft.

Klar, die Blätter bilden den Humus für die kommenden Jahre.

Doch das können tierische oder menschliche Fäkalien genauso.

Aber haben Sie jemals eine Ode an die kackbraunen Würste gelesen?

Kontaktphobie

Es zeugt nicht gerade von überbordender Kreativität, wenn die Eltern eines knapp zweijährigen Sohnes sich entschließen, denn Sommerurlaub auf einem Bauernhof zu verbringen.
Aber Klein-Alex hat noch kein Smartphone oder Gameboy, mit dem er sich selbst bespaßen kann, während die Eltern im Liegestuhl von einem ganz anderen Leben träumen, Seit an Seit mit zigtausenden anderen teutonischen Grillhähnchen und -hennen.
Er geht noch naiv auf alle Menschen zu; sucht sich bereitwillig und offenherzig analoge Freunde, während sich die digitalen Freunde im weltweiten Gesichtsbuch noch einige Jahre in Geduld üben müssen.
Der Bauernhof im Altmühltal hatte eine ansprechende Präsentation im Internet, so dass die Entscheidung nicht schwerfiel.
Frohgemut wurden die Reisetaschen gepackt; wobei etliche Kilos allein für Babygläschen und sonstigen Kleinkinderproviant reserviert waren. Schließlich soll es ja in hiesigen Graden schon öfters vorgekommen sein, dass speziell Kinder einen Bauernhof mit Hungerbuchen verlassen haben.
Das Apartment vor Ort war weniger farbenfroh als in der virtuellen Darstellung; es hatte eher den Charme einer vergilbten Puppenstube aus den sechziger Jahren.
Aber auf einem Bauernhof sind Fragen nach der Qualität der Unterkunft eher Marginalien. Tatsächlich zählen die Tiere, denn deswegen flüchtet man ja aus den Betonburgen der Metropolen.
Und Klein-Alex inspizierte sofort die Tiere des Hofs, waren sie doch der wahre Beweggrund für diesen Urlaub.
Die großstädtische Vorstellung einer vergnüglichen Tierschar schmolz wie Eis unter der Höhensonne eines Schönheitsstudios dahin.
Die beiden Hasen nahmen, sobald ein Mensch sich ihrem Außengehege näherte, Zuflucht in ihrem ebenerdigen Stall. Leckerster Löwenzahn oder vierblättrige Kleeblätter lockten sie erst wieder heraus, wenn die Futter bringenden Gutmenschen außer Sichtweite waren.
Die Katzen, ebenfalls zwei an der Zahl, gerierten sich als Phantome des Bauernhofs. Es gab gesicherte und glaubhafte Gerüchte, dass es sie wirklich gäbe, zu Gesicht bekam sie aber niemand. Auch Klein-Alex nicht…
Dafür waren die Ziegen umso wahrnehmbarer. Mit einer akustischen wie olfaktorischen Präsenz machten sie hör- und riechbar auf sich aufmerksam.
Klein-Alex, weder kontaktscheu zu zweibeinigen Zicken noch zu vierbeinigen Ziegen, schnappte sich einen Großteil des mitgebrachten trockenen Brotes. Auch hierfür wurde eine ganze Reisetasche geopfert, schließlich sind Tiere auf einem Bauernhof gleichfalls nicht vor dem Hungertod gefeit.
Doch die dauergemästeten Ziegen entrissen dem kleinen Mann mit solcher Vehemenz das Brot, dass er erschrocken das Weite suchte. Irritiert über diesen Vorfall irrlichterte er über den Bauernhof, keinen Blick für Sandkasten, Schaukel oder andere nichttierische Spielsachen.
Da wurde er urplötzlich eines Esels am Rande des Hofgeländes gewahr. Dieser lief still hinter einem Holzzaun entlang.
Klein-Alex entdeckte sofort sein Herz für dieses in Einsamkeit ergraute Tier. Endlich ein Lebewesen, das angemessen auf seine Kontaktversuche zu reagieren schien.
Doch unvermittelt schritt die Bäuerin des Hofes ein.
Der Esel müsste auf alle Fälle großräumig gemieden werden, denn er würde, nach vielen negativen Erfahrungen mit menschlichen Wesen, selbige beißen, sofern sie ihm Gelegenheit hierzu gäben.
Klein-Alex erstarrte zu Stein.
Dicke Tränen kullerten über seine Wangen.
Wieder zuhause angekommen, erzählte er auf die Frage, wie ihm denn der Bauernhofurlaub gefallen hätte, seinen ersten Zweiwortsatz. Er lautete:
„Esel beißt!“
Tiere füttern macht ihm seither absolut keinen Spaß mehr…

Sommerloch 2013

Jedes Jahr im Sommer, wenn wahlweise das Gehirn oder die Grillwurst im Reihenhausgarten vor sich hinbrutzelt, braucht die Republik ein Aufregerthema. Die Bundestagsabgeordneten haben hitzefrei, die Leitartikler suchen im Archivkeller nach verstaubten Glossen aus den Vorjahren, die Seichtgebiete des Fernsehprogramms mutieren zu Ultraseichtgebieten.
Kurzum: ein Land in geistiger Erstarrung – man nennt es auch das Sommerloch.
Wie gut, dass sich dann in dieser Zeit der sauren Gurken immer ein mediales Aufregerthema findet.
Und schnell wird aus dem Land der meteorologischen Paralyse ein Land der geistigen Paranoia.
In diesem Jahr sind wir hierbei einem Mann zu Dank verpflichtet, der sich damit abfinden muss, nach seiner kurzen Karriere als Geheimdienstmitarbeiter nun lebenslang ein geheimnisvolles vorzeitiges Ableben befürchten zu müssen.
Der NSA, dieses ominöse Buchstabenkürzel, soll, so ist zu vernehmen, eine quantitativ fast nicht mehr darstellbare Menge an Mails und Telefonaten angezapft und ausgewertet zu haben.
Die pflichtschuldigst an den Tag gelegte geheuchelte Empörung eroberte in Windeseile die sommerlich ausgedünnten Nachrichtenmagazine wie auch die Talkshows dieses Landes.
Huch, da steigt der Angstpegel des deutschen Michel, denn es steht ja zu befürchten, dass der Präsident höchstselbst seine Gutenachtlektüre für die Gattin und die beiden pubertierenden Töchter aus den abgefangenen elektronischen Briefen zusammenstellt.
Gesetzt den Fall, der erste farbige US-Präsident würde dies tatsächlich tun, er würde innerhalb kürzester Zeit völlig erbleichen.
Denn was bitteschön ist denn in den weit überwiegenden Mailkommunikationen zu lesen?
Wer sich mal der geistigen Folter unterzieht, die öffentlich zugänglichen Facebook-Botschaften zu lesen, wird mit Brechdurchfall nicht unter drei Jahren bestraft.
Soviel Banalität in solch komprimierter Form zigtausendfach gestreut („gefällt mir!“), taugt noch nicht mal als Stoff für ein provinzielles Bauerntheater.
Herr Obama findet hoffentlich gehaltvollere Lektüre für die Seinen!
Und die ihm dann tatsächlich von diversen Experten vorgelegten Mails sind natürlich nach speziellen Schlüsselbegriffen ausgefiltert worden.
Aber glaubt jemand allen Ernstes, die Verkörperung alles Bösen in dieser Welt namens Osama bin Laden sei auf Grund seiner abgefangenen Mails aufgespürt worden, die er vorschrifts- und wahrheitsgemäß mit seinem vollen Namen unterschrieben hatte?
Sollte man das Wort „Laden“ ergo in jeglicher Konnotation meiden: Ein- und ausladen, Ladengeschäft und Ladensterben, voll beladen mit Marmeladen??
Im Ernst: Ein Land, dessen Bürger jeglichen Schwachsinn per I-Phone oder Email, Facebook oder Twitter massenmörderisch verbreitet, hat vom NSA und seinen klandestinen Spitzel- und Spähaktionen absolut nichts zu befürchten. Außer dass ihm eines Tages die Decke von seinem toten Geist weggezogen wird.
Wir werden es erleben – spätestens im nächsten Sommer!

„in“

Jeden Morgen betrete ich seit Jahrzehnten im halbwachen Zustand das Bürogebäude. Mechanisch drücke ich den Aufzugsknopf und lasse mich in den sechsten Stock hochfahren.
Es ist vorteilhaft, so früh die Arbeitsstätte zu betreten. Der fitnessfanatische Chef ist noch nicht im Hause, der mit Argusaugen beobachtet, wer – wie er zu sagen pflegt – den Fahrstuhl benutzt, obwohl er doch zwei gesunde Beine hat.
Von Vorteil ist es aber auch, im sechsten Stockwerk für eine knappe Viertelstunde alleine zu sein.
Für einen Rundblick über die Stadt, den das Gebäude durchaus ermöglichen würde, fehlt mir um diese Uhrzeit noch die ausreichende Augenöffnungskapazität.
Jedoch ist diese kurze Zeitspanne der einzige weiße Fleck in meinem durchrationalisierten Büroalltag: noch keine lästigen Telefonate, keine lawinenartigen Maileingänge, kein Bürogetratsche um alberne Banalitäten.
Das erste Geräusch, das ich in Gang setze, ist der Wasserkocher. Das Tee kochen ist eine liebgewonnene Zeremonie, die ich weniger mechanisch als vielmehr meditativ betreibe.
Noch ist alles gut, noch ist kein dringender Rückruf angesagt.
Doch die Minuten der Freiheit verrinnen.
Jeden Moment stürmen misogyn-miesepetrige oder penetrant gut gelaunte Kolleginnen und Kollegen herein.
Dann ist jäh mein friedvolles Teeritual zu Ende und der schnöde Arbeitsalltag beginnt.
Das Arbeitsleben mutet an wie ein Leben im Hamsterrad:
Je schneller du ein Telefonat abwickelst, umso schneller kommt das Folgegespräch; je schneller du die Mails erledigst, umso schneller folgen die nächsten elektronischen Zusendungen.
Bis zum Arbeitsschluss am frühen Abend, nur zweimal von einer Pause unterbrochen, die jedoch auch immer einen halb-dienstlichen Charakter haben.
Immer öfter ertappe ich mich bei dem Gedanken, nach dem Teeritual den Rückzug anzutreten: nach Hause zu gehen oder den nahe gelegenen Stadtpark aufzusuchen - eben den freiwilligen bzw. antrainierten Gang in den Hamsterkäfig zu verweigern!
Noch bin ich „in“, doch ich spüre tief in mir, dass ich bald die Kraft dafür habe, außen vor zu bleiben.

Schlankheitskur

Der Bauch, er wölbt sich täglich mehr
Gefüllt will der Magen sein, niemals leer.
Der Hosenknopf versagt, die nächste Größe muss her
Die Verfettung droht nicht nur von ungefähr.

Doch eine innere Stimme wehrt sich vehement und schreit Diät
Maßregle dich, sonst ist es zu spät
Verschließ den Mund, wenn eine Kalorienbombe dich einlädt
Wer zum Autisten, wenn ein Hungergefühl sich verrät!

Der tägliche Befund auf der Waage wird zur Pflicht
Am äußeren Erscheinungsbild sieht man es lange nicht
Das Band der Fettzellen hält gar lange dicht
Nur äußerst mühsam verringert sich das Gewicht

Jetzt gilt es konsequent tagtäglich NEIN zu sagen
Wenn sich Gelüste aus der Versenkung wagen
Die Selbstkasteiung verärgert klar den Magen
Was ein Genuss, ist nun Wehklagen.

Jeder Stadtbummel wird zur Tortur
Der Gang zum Bäcker ist Versuchung pur
Was nicht wächst, verendet in der Natur
Verflucht sei jede Schlankheitskur!

Verliebte Freundschaft

K. bewohnt kein Luxusapartment. Es ist eher eine zumindest auf den ersten Blick durchschnittliche Zwei-Zimmer-Wohnung in einem durchschnittlich lauten Haus in einer durchschnittlich großen Stadt. Von den vielen Durchschnittsmenschen unterscheidet sich K. wohl nur in einer Hinsicht. Bei anderen Zeitgenossen, ob als Single oder als Familie lebend, ist eindeutig das Wohnzimmer der Mittelpunkt der jeweiligen Häuslichkeit. Das durchschnittliche Wohnzimmer ist eine Anhäufung von mehr oder weniger praktischen Sitzmöbeln und von mehr oder weniger häufig genutzten technischen Gerätschaften. K. verzichtet liebend gerne auf solche audiovisuellen Grausamkeiten: keine röhrenden Hirsche an der Wand, keine meterlangen Sitzmöbel, keine Flachbildschirme, die das altarähnliche Zentrum des Zimmers und dessen geistiges Vakuum bilden. K. bedarf keiner massenmedialen Verunglimpfung des Verstandes. Keine Beicht- und Seichtberieselungen, keine Abendunterhaltung zwischen werbepausengeschwängerter Wohnzimmersessellethargie und letzte intakte Gehirnzellen vernichtender Wohnzimmerschrankwandbar. Deutsche Gemütlichkeit ist für K. keine Segensvorstellung, sondern das reinste Horrorszenario. K. entbehrt dies alles voller innerer Dankbarkeit. Sein Wohnzimmer, wenn man es denn so nennen will, ist schnell zu beschreiben: ziemlich genau in der Mitte befindet sich ein bequemer Schaukelstuhl, daneben ein kleiner Ablagetisch. Und ringsherum, an allen Wänden, sind selbst gezimmerte Holzregale. Regale voller Bücher. Es sind hunderte, ja tausende Bücher. Sie stehen in den Regalen nach keinem erkennbaren Sortierschema - nicht nach Autoren, nicht nach Buchgattung, nicht nach Farbe oder Größe geordnet. Wie ein üppig sprießender Wildkräutergarten, aus dem sich K. nach getaner Tagesarbeit wie zufällig ein Buch herauspflückt. Nach der Nahrung für den Körper flößt sich K. im Schaukelstuhl sitzend Nahrung für den Geist ein. Es ist ein besonderer Duft in diesem Raum. Kein kalter Rauch oder exotische Duftkerzen. Es ist der fein-würzige Duft gedruckten Papiers; durch die schiere Menge an Büchern ist dieser auch intensiv wahrnehmbar. Bevor er sich dann zu Bett begibt, blickt K. in einer stillen Zeremonie nochmals minutenlang auf die Buchreihen. Seine Augen lächeln die vergilbten Bücher an. Es ist kein bloßes Hobby, dem K. auf diese Art und Weise so würdevoll frönt. Es ist eine tiefe, innige Beziehung, die er mit seinen Buchschätzen pflegt und tagtäglich erneuert. Die Bücher sind seine geistigen Mitbewohner, die mit ihm leben und mit ihm kommunizieren. Insofern ist es eine vergilbte wie verliebte Freundschaft, die er mit ihnen teilt.

Fortsetzung

Unstet wanderte mein Blick von rechts nach links und von oben nach unten.
Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen.
Doch er besaß nicht den Mut, einfach aufzusehen und sich zu entfernen. Grußlos oder mit einer fadenscheinigen Begründung. Oder einen wichtigen Handyanruf vortäuschen: Die Frau zuhause entbindet plötzlich – Zwillinge, Drillinge –Fortsetzung im Anmarsch, ein Ende war nicht abzusehen.
Oder die Schimmelkulturen des bioaktiven Joghurts hatten sich außerhalb des solarbetriebenen Ökokühlschranks ausgebreitet und setzen ihr Wachstum nun auf dem honigwachskonservierten Holzfußboden in der Küche fort.
Ausreden ließen sich doch beliebig viele finden.
Es ging auch nicht um deren Originalität oder Glaubwürdigkeit.
Es ging einfach darum, dass er nicht den Mut aufbrachte, sich zu absentieren.
Die Suppe, die man sich eingebrockt hat, muss man auch wieder auslöffeln.
In seinem Falle war es Buchstabensuppe.
Denn er saß in einer Runde lokaler Schreibheroen. Sie schrieben munter vor sich hin, die Kugelschreiber kollabierten beinahe, während sein Stift ungenutzt die Schockstarre seiner Schreibhand aushalten musste.
Aber das Zentrum seiner Schockstarre war in seinem Kopf. Denn seine Gehirnzellen wollten keine kreativen Einfälle produzieren, bleierne Leere setzte sich bis in die hintersten Regionen seiner Hirnsynapsen fest.
Du hast keine Ideen, also beschreibe sie.
Es war wie seinerzeit in der Deutschschulstunde. Das Trauma des Nichtschreibenkönnens in einer Gruppe setzte sich also fort.
Was sollte er tun?
Er studierte bereits mehrfach die ausgehängte Getränkekarte. Doch selbst diese bot ihm keinen Schreibanlass, kein Idee für eine wenigstens bruchstückhafte Geschichte.
Er war hier hergekommen, weil man ihm gesagt hatte, er würde eine Reihe attraktiven Frauen vorfinden.
Und diese ließen sich von guten Geschichtenschreibern mächtig beeindrucken.
Doch in seiner angeborenen Schüchternheit warf er nur kurze Blicke in die Runde der Anwesenden.

Fortsetzung folgt …