Verliebt

Verliebte Freundschaft

K. bewohnt kein Luxusapartment. Es ist eher eine zumindest auf den ersten Blick durchschnittliche Zwei-Zimmer-Wohnung in einem durchschnittlich lauten Haus in einer durchschnittlich großen Stadt. Von den vielen Durchschnittsmenschen unterscheidet sich K. wohl nur in einer Hinsicht. Bei anderen Zeitgenossen, ob als Single oder als Familie lebend, ist eindeutig das Wohnzimmer der Mittelpunkt der jeweiligen Häuslichkeit. Das durchschnittliche Wohnzimmer ist eine Anhäufung von mehr oder weniger praktischen Sitzmöbeln und von mehr oder weniger häufig genutzten technischen Gerätschaften. K. verzichtet liebend gerne auf solche audiovisuellen Grausamkeiten: keine röhrenden Hirsche an der Wand, keine meterlangen Sitzmöbel, keine Flachbildschirme, die das altarähnliche Zentrum des Zimmers und dessen geistiges Vakuum bilden. K. bedarf keiner massenmedialen Verunglimpfung des Verstandes. Keine Beicht- und Seichtberieselungen, keine Abendunterhaltung zwischen werbepausengeschwängerter Wohnzimmersessellethargie und letzte intakte Gehirnzellen vernichtender Wohnzimmerschrankwandbar. Deutsche Gemütlichkeit ist für K. keine Segensvorstellung, sondern das reinste Horrorszenario. K. entbehrt dies alles voller innerer Dankbarkeit. Sein Wohnzimmer, wenn man es denn so nennen will, ist schnell zu beschreiben: ziemlich genau in der Mitte befindet sich ein bequemer Schaukelstuhl, daneben ein kleiner Ablagetisch. Und ringsherum, an allen Wänden, sind selbst gezimmerte Holzregale. Regale voller Bücher. Es sind hunderte, ja tausende Bücher. Sie stehen in den Regalen nach keinem erkennbaren Sortierschema - nicht nach Autoren, nicht nach Buchgattung, nicht nach Farbe oder Größe geordnet. Wie ein üppig sprießender Wildkräutergarten, aus dem sich K. nach getaner Tagesarbeit wie zufällig ein Buch herauspflückt. Nach der Nahrung für den Körper flößt sich K. im Schaukelstuhl sitzend Nahrung für den Geist ein. Es ist ein besonderer Duft in diesem Raum. Kein kalter Rauch oder exotische Duftkerzen. Es ist der fein-würzige Duft gedruckten Papiers; durch die schiere Menge an Büchern ist dieser auch intensiv wahrnehmbar. Bevor er sich dann zu Bett begibt, blickt K. in einer stillen Zeremonie nochmals minutenlang auf die Buchreihen. Seine Augen lächeln die vergilbten Bücher an. Es ist kein bloßes Hobby, dem K. auf diese Art und Weise so würdevoll frönt. Es ist eine tiefe, innige Beziehung, die er mit seinen Buchschätzen pflegt und tagtäglich erneuert. Die Bücher sind seine geistigen Mitbewohner, die mit ihm leben und mit ihm kommunizieren. Insofern ist es eine vergilbte wie verliebte Freundschaft, die er mit ihnen teilt.