Kontaktphobie

Es zeugt nicht gerade von überbordender Kreativität, wenn die Eltern eines knapp zweijährigen Sohnes sich entschließen, denn Sommerurlaub auf einem Bauernhof zu verbringen.
Aber Klein-Alex hat noch kein Smartphone oder Gameboy, mit dem er sich selbst bespaßen kann, während die Eltern im Liegestuhl von einem ganz anderen Leben träumen, Seit an Seit mit zigtausenden anderen teutonischen Grillhähnchen und -hennen.
Er geht noch naiv auf alle Menschen zu; sucht sich bereitwillig und offenherzig analoge Freunde, während sich die digitalen Freunde im weltweiten Gesichtsbuch noch einige Jahre in Geduld üben müssen.
Der Bauernhof im Altmühltal hatte eine ansprechende Präsentation im Internet, so dass die Entscheidung nicht schwerfiel.
Frohgemut wurden die Reisetaschen gepackt; wobei etliche Kilos allein für Babygläschen und sonstigen Kleinkinderproviant reserviert waren. Schließlich soll es ja in hiesigen Graden schon öfters vorgekommen sein, dass speziell Kinder einen Bauernhof mit Hungerbuchen verlassen haben.
Das Apartment vor Ort war weniger farbenfroh als in der virtuellen Darstellung; es hatte eher den Charme einer vergilbten Puppenstube aus den sechziger Jahren.
Aber auf einem Bauernhof sind Fragen nach der Qualität der Unterkunft eher Marginalien. Tatsächlich zählen die Tiere, denn deswegen flüchtet man ja aus den Betonburgen der Metropolen.
Und Klein-Alex inspizierte sofort die Tiere des Hofs, waren sie doch der wahre Beweggrund für diesen Urlaub.
Die großstädtische Vorstellung einer vergnüglichen Tierschar schmolz wie Eis unter der Höhensonne eines Schönheitsstudios dahin.
Die beiden Hasen nahmen, sobald ein Mensch sich ihrem Außengehege näherte, Zuflucht in ihrem ebenerdigen Stall. Leckerster Löwenzahn oder vierblättrige Kleeblätter lockten sie erst wieder heraus, wenn die Futter bringenden Gutmenschen außer Sichtweite waren.
Die Katzen, ebenfalls zwei an der Zahl, gerierten sich als Phantome des Bauernhofs. Es gab gesicherte und glaubhafte Gerüchte, dass es sie wirklich gäbe, zu Gesicht bekam sie aber niemand. Auch Klein-Alex nicht…
Dafür waren die Ziegen umso wahrnehmbarer. Mit einer akustischen wie olfaktorischen Präsenz machten sie hör- und riechbar auf sich aufmerksam.
Klein-Alex, weder kontaktscheu zu zweibeinigen Zicken noch zu vierbeinigen Ziegen, schnappte sich einen Großteil des mitgebrachten trockenen Brotes. Auch hierfür wurde eine ganze Reisetasche geopfert, schließlich sind Tiere auf einem Bauernhof gleichfalls nicht vor dem Hungertod gefeit.
Doch die dauergemästeten Ziegen entrissen dem kleinen Mann mit solcher Vehemenz das Brot, dass er erschrocken das Weite suchte. Irritiert über diesen Vorfall irrlichterte er über den Bauernhof, keinen Blick für Sandkasten, Schaukel oder andere nichttierische Spielsachen.
Da wurde er urplötzlich eines Esels am Rande des Hofgeländes gewahr. Dieser lief still hinter einem Holzzaun entlang.
Klein-Alex entdeckte sofort sein Herz für dieses in Einsamkeit ergraute Tier. Endlich ein Lebewesen, das angemessen auf seine Kontaktversuche zu reagieren schien.
Doch unvermittelt schritt die Bäuerin des Hofes ein.
Der Esel müsste auf alle Fälle großräumig gemieden werden, denn er würde, nach vielen negativen Erfahrungen mit menschlichen Wesen, selbige beißen, sofern sie ihm Gelegenheit hierzu gäben.
Klein-Alex erstarrte zu Stein.
Dicke Tränen kullerten über seine Wangen.
Wieder zuhause angekommen, erzählte er auf die Frage, wie ihm denn der Bauernhofurlaub gefallen hätte, seinen ersten Zweiwortsatz. Er lautete:
„Esel beißt!“
Tiere füttern macht ihm seither absolut keinen Spaß mehr…