Freundschaft
Verliebte Freundschaft
Gespeichert in:Sonderzeit
| 2012
K. bewohnt kein Luxusapartment. Es ist eher eine
zumindest auf den ersten Blick durchschnittliche
Zwei-Zimmer-Wohnung in einem durchschnittlich lauten
Haus in einer durchschnittlich großen Stadt. Von den
vielen Durchschnittsmenschen unterscheidet sich K.
wohl nur in einer Hinsicht. Bei anderen Zeitgenossen,
ob als Single oder als Familie lebend, ist eindeutig
das Wohnzimmer der Mittelpunkt der jeweiligen
Häuslichkeit. Das durchschnittliche Wohnzimmer ist
eine Anhäufung von mehr oder weniger praktischen
Sitzmöbeln und von mehr oder weniger häufig genutzten
technischen Gerätschaften. K. verzichtet liebend
gerne auf solche audiovisuellen Grausamkeiten: keine
röhrenden Hirsche an der Wand, keine meterlangen
Sitzmöbel, keine Flachbildschirme, die das
altarähnliche Zentrum des Zimmers und dessen
geistiges Vakuum bilden. K. bedarf keiner
massenmedialen Verunglimpfung des Verstandes. Keine
Beicht- und Seichtberieselungen, keine
Abendunterhaltung zwischen werbepausengeschwängerter
Wohnzimmersessellethargie und letzte intakte
Gehirnzellen vernichtender Wohnzimmerschrankwandbar.
Deutsche Gemütlichkeit ist für K. keine
Segensvorstellung, sondern das reinste
Horrorszenario. K. entbehrt dies alles voller innerer
Dankbarkeit. Sein Wohnzimmer, wenn man es denn so
nennen will, ist schnell zu beschreiben: ziemlich
genau in der Mitte befindet sich ein bequemer
Schaukelstuhl, daneben ein kleiner Ablagetisch. Und
ringsherum, an allen Wänden, sind selbst gezimmerte
Holzregale. Regale voller Bücher. Es sind hunderte,
ja tausende Bücher. Sie stehen in den Regalen nach
keinem erkennbaren Sortierschema - nicht nach
Autoren, nicht nach Buchgattung, nicht nach Farbe
oder Größe geordnet. Wie ein üppig sprießender
Wildkräutergarten, aus dem sich K. nach getaner
Tagesarbeit wie zufällig ein Buch herauspflückt. Nach
der Nahrung für den Körper flößt sich K. im
Schaukelstuhl sitzend Nahrung für den Geist ein. Es
ist ein besonderer Duft in diesem Raum. Kein kalter
Rauch oder exotische Duftkerzen. Es ist der
fein-würzige Duft gedruckten Papiers; durch die
schiere Menge an Büchern ist dieser auch intensiv
wahrnehmbar. Bevor er sich dann zu Bett begibt,
blickt K. in einer stillen Zeremonie nochmals
minutenlang auf die Buchreihen. Seine Augen lächeln
die vergilbten Bücher an. Es ist kein bloßes Hobby,
dem K. auf diese Art und Weise so würdevoll frönt. Es
ist eine tiefe, innige Beziehung, die er mit seinen
Buchschätzen pflegt und tagtäglich erneuert. Die
Bücher sind seine geistigen Mitbewohner, die mit ihm
leben und mit ihm kommunizieren. Insofern ist es eine
vergilbte wie verliebte Freundschaft, die er mit
ihnen teilt.