„in“

Jeden Morgen betrete ich seit Jahrzehnten im halbwachen Zustand das Bürogebäude. Mechanisch drücke ich den Aufzugsknopf und lasse mich in den sechsten Stock hochfahren.
Es ist vorteilhaft, so früh die Arbeitsstätte zu betreten. Der fitnessfanatische Chef ist noch nicht im Hause, der mit Argusaugen beobachtet, wer – wie er zu sagen pflegt – den Fahrstuhl benutzt, obwohl er doch zwei gesunde Beine hat.
Von Vorteil ist es aber auch, im sechsten Stockwerk für eine knappe Viertelstunde alleine zu sein.
Für einen Rundblick über die Stadt, den das Gebäude durchaus ermöglichen würde, fehlt mir um diese Uhrzeit noch die ausreichende Augenöffnungskapazität.
Jedoch ist diese kurze Zeitspanne der einzige weiße Fleck in meinem durchrationalisierten Büroalltag: noch keine lästigen Telefonate, keine lawinenartigen Maileingänge, kein Bürogetratsche um alberne Banalitäten.
Das erste Geräusch, das ich in Gang setze, ist der Wasserkocher. Das Tee kochen ist eine liebgewonnene Zeremonie, die ich weniger mechanisch als vielmehr meditativ betreibe.
Noch ist alles gut, noch ist kein dringender Rückruf angesagt.
Doch die Minuten der Freiheit verrinnen.
Jeden Moment stürmen misogyn-miesepetrige oder penetrant gut gelaunte Kolleginnen und Kollegen herein.
Dann ist jäh mein friedvolles Teeritual zu Ende und der schnöde Arbeitsalltag beginnt.
Das Arbeitsleben mutet an wie ein Leben im Hamsterrad:
Je schneller du ein Telefonat abwickelst, umso schneller kommt das Folgegespräch; je schneller du die Mails erledigst, umso schneller folgen die nächsten elektronischen Zusendungen.
Bis zum Arbeitsschluss am frühen Abend, nur zweimal von einer Pause unterbrochen, die jedoch auch immer einen halb-dienstlichen Charakter haben.
Immer öfter ertappe ich mich bei dem Gedanken, nach dem Teeritual den Rückzug anzutreten: nach Hause zu gehen oder den nahe gelegenen Stadtpark aufzusuchen - eben den freiwilligen bzw. antrainierten Gang in den Hamsterkäfig zu verweigern!
Noch bin ich „in“, doch ich spüre tief in mir, dass ich bald die Kraft dafür habe, außen vor zu bleiben.