Martin Tingvall

Ein Pianist auf der Suche nach Distanz

Als der in Hamburg lebende schwedische Pianist Martin Tingvall 2012 mit "en ny dag" (ein neuer Tag) sein erstes Solo-Album veröffentlichte (siehe Blättchen Nr. 21/2012), präsentierte er eine andere Facette, nämlich die ruhige Seite seines künstlerischen Schaffens.
Die von manchen Rezensenten im deutschsprachigen Feuilleton gestellte Frage, ob diese Art von Musik nun Jazz oder Klassik sei, mutet wie die antiquierte Schubladisierung derselbigen an. Für Martin Tingvall ist eine solche Trennung nach Genres reichlich obsolet, sein Klavierspiel steht Edvard Grieg genauso nahe wie Chick Corea.
Mit "Distance" beschreitet er den eingeschlagenen Weg seiner Solo-Werke konsequent weiter. Er geht nach seinen eigenen Worten "auf die Suche nach Distanz. Distanz zur Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit, aber zum Beispiel auch die Entfernung, die entsteht, wenn man sich kaum mehr persönlich trifft, weil die meisten zwischenmenschlichen Kontakte über digitale Medien laufen."
Der Zuhörende bekommt mit dieser CD also eine Einladung, um Abstand zu schaffen zum tagtäglichen massenmedialen Overkill, in dem es kein Ende und keine (Scham-)Grenze mehr gibt.
Wenn man sich auf Tingvalls Musik einlässt, dann kann man innehalten, sich Tagträumereien hingeben, heraustreten aus dem normal wie Norm gewordenen Gedankenkarussell, sinnieren und reflektieren.
Inspirationen holte sich Tingvall nicht zuletzt von einem Aufenthalt auf Island. Hier bekam er ganz neue Perspektiven: "Trotz oder vielleicht gerade wegen der riesigen Entfernungen dort habe ich das Gefühl gehabt, dass es eine viel größere zwischenmenschliche Nähe gibt."
Und wer noch mehr von diesem meditativen Pianospiel haben möchte: Im Herbst wird Martin Tingvall eine ausgedehnte Tournee unternehmen.

Martin Tingvall: Distance Skip Records, 2015

Magische Miniaturstücke und ein Stromausfall

Mit "en ny dag" (ein neuer Tag) ist dem in Südschweden und Norddeutschland lebenden Jazzpianisten Martin Tingvall, Jahrgang 1974, eine zauberhafte Melange aus Dur- und Molltönen gelungen.
Wie magisch wird man in den Sog dieser vierzehn Miniaturstücke gezogen. Gleich ob heitere oder melancholische Stimmungsmomente musikalisch wiedergegeben werden: Die Melodien setzen sich bereits beim ersten Hören nachhaltig im Kopf fest.
Martin Tingvall beweist ein erstaunliches kompositorisches Geschick, Momente der Freude und der Trauer mit dem Klavier zum Ausdruck und in bleibende Erinnerung zu bringen. So wird etwa ein Stromausfall bei einem Konzert in Harare (Zimbabwe) dem Strudel der Vergessenheit entrissen.
Impulsgeber für seine gefühlvollen Stücke sind jedoch auch Beobachtungen in der Natur oder in seinem direkten Umfeld, beispielsweise beim Betrachten von schlafenden Kindern.
Umrahmt werden die Stücke auf "en ny dag" von zwei kurzen nächtlichen Reminiszenzen - zum Einstieg ein sinkender Stern und zum Abschluss das Sternbild des Großen Wagens.
Wer sich dieses Soloprojekt von Martin Tingvall live zu Gemüte fühen will, hat in den kommenden Wochen mehrfach Gelegenheit, u.a. am 17.10. in Hamburg, am 9.12. in Berlin, am 10.12.2012 in Frankfurt/Main und am 22.1.2013 in München. Ob wohl dann auch in deutschen Landen ein Stromausfall bei einem Konzert zu befürchten ist...?


Martin Tingvall: en ny dag
Skip Records, 2012