Leidenschaftliche und amüsante Interpretationen

Man sieht sich im Leben immer zweimal... trifft das auch auf akustische Erlebnisse zu?
In den 80er Jahren fiel mir die CD "For here where the Life is ..." von Anne Haigis in die Hände. Eine für mich immer noch faszinierende Mischung aus Musiktiteln im Grenzbereich zwischen Jazz und Pop. Zwei Jahrzehnte später hätte sie mit dieser CD durchaus einer Katie Melua und deren Epigonen Konkurrenz machen können.
Ich verlor die Künstlerin dann aus den Augen bzw. Ohren.
Viele Jahre später dann ein unverhofftes Wiederhören: Anne Haigis veröffentlicht "15 Companions".
Ihre Stimme ist jetzt deutlich erdiger und bluesiger; die gebürtige Schwäbin klingt nun wie eine Wiedergängerin von Janis Joplin oder der weibliche Gegenpart von Tom Waits, dessen melancholische Komposition "Waltzing Mathilda" Eingang in diese CD gefunden hat.
15 musikalische Mitstreiter ("Companions") hat Anna Haigis auf diesem Album insgesamt vereint. Es ist auch das 15. Album ihrer Karriere, das passenderweise im Jahr 2015 erschienen ist.
Doch nicht die Zahlenmystik steht im Vordergrund, sondern die gefühlvolle Stimme der Künstlerin. Sie changiert zwischen sanft und rau, zwischen ruhig und kraftvoll röhrend.
Bei den Konzertmitschnitten handelt es sich teilweise um Aufnahmen aus sogenannten Wohnzimmerkonzerten in der Nähe von Köln. Es sind intime Darbietungen, bei denen auch ihre musikalische Duopartnerin Ina Boo an der Gitarre und am Klavier hervorzuheben ist.
Die stimmige Instrumentierung der Stücke sorgt für deren eindringlichen Nachklang.
Ein besonderes Sahnehäubchen ist unter den Fremdkompositionen sicherlich das Lied "Ich bau Dir ein Schloss" des holländischen Schlagersängers Heintje - ein amüsanter Schlusspunkt auf einem leidenschaftlich dargebotenem Album.


Anne Haigis: 15 Companions
Westpark Music, 2015

Akustische Wohltaten in der Vorweihnachtszeit

Jahresendzeitstimmung ist angesagt. Doch bevor das neue Jahr mit neuen Vorsätzen und auch neuen Illusionen gestartet wird, richtet sich der Fokus auf Weihnachten.
Vom deutschen Einzelhandel wird die Vorweihnachtszeit als umsatzstärkster Monat herbeigesehnt. Und die Gehörgänge der Kundschaft werden in den Tagen und Wochen vor dem Fest mit den immergleichen Weihnachtsklassikern regelrecht weichgespült.
Ein Entrinnen ist hier nur schwerlich möglich.
Doch es gibt auch einige, zugegebenermaßen wenige akustische Wohltaten.
So spielte mitten im Hochsommer die Münchener Jazzmusikerin Barbara Dennerlein das Album "Christmas Soul" im italienischen Bari ein.
Die Künstlerin, seit 2013 Mitglied der ehrwürdigen "Hammond Hall of Fame", spielte für diese Aufnahmen nicht auf "irgendeiner" Hammondorgel, nein, es musste schon eine "Hammond B3" sein.
Diese "B3" mag schwerfällig wirken - und im engeren Wortsinne ist sie es mit knapp 200 Kilogramm Gewicht durchaus.
Doch Barbara Dennerlein produziert keinen schwerfälligen Klangbrei, sondern entlockt im filigranen Spiel diesem Instrument (das übrigens seit 1973 nicht mehr gebaut wird!) höchst vielfältige Töne in unterschiedlichen Tempi. Mit den diversen Tastaturen und Reglern lassen an dieser Hammondorgel annähernd 250 Millionen Soundkombinationen kreieren - da schweigt jeder Synthesizer in Ehrfurcht.
Unterstützt wird sie u.a. vom schwedischen Saxofonisten Markus Lindgren und der englischen Jazzsängerin Zara McFarlane.
Durchaus bekanntes Liedgut wird hier nicht gegen den Strich gebürstet, sondern bekommt einen wohltuenden Aufguss aus Jazz und Soul verpasst.
Es gibt also auch an Weihnachten Bescherungen, die hörenswert sind ...


Barbara Dennerlein: Christmas Soul
Edel/MPS, 2015

Wortspielreiche Spielverderber

Erlangen ist bekannt als Universitätsstadt und als großer Siemens-Standort. Musikalisch ist diese nordbayerische Stadt bisher kaum hervorgetreten. Zu Zeiten der Neuen Deutschen Welle in den 80er Jahren gab es durch die Gruppe "Foyer des Arts" einen kleinen Hit mit dem Stück "Wissenswertes über Erlangen", wobei dieses Lied bestenfalls als ironische Hommage an die Stadt durchgehen kann.
Peter "Point" Gruner liefert mit seiner Band "Die Spielverderber", wenngleich in der Erlanger Region beheimatet, gleichfalls keine Oden an die fränkische Fahrrad-Stadt.
Musikalisch bieten sie dezente Reggae- und kernige Rhythm'n'Blues - Rhythmen, hin und wieder mit kräftigen Bläserzusätzen gewürzt.
Die Liedtexte sind wortspielreich, abzulesen nicht nur am Albumtitel oder an Songtiteln wie "Reiche Arme" und "Verlorene Lore".
Point verhackstückt unterhaltsam-witzig Liebeslust und Liebesfrust, alltägliche Flausen und Befindlichkeiten.
Statt der unerträglichen Schnoddrigkeit des intellektuellen Jammerlebens wartet er mit (selbst-)ironisch gesungenen Lebensepisoden und -erkenntnissen auf.
Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass es die Point-Alben "bewusst nicht über Amazon oder andere Internet-Gangster" zu kaufen gibt. Auch wenn er kein dezidiert politischer Liedermacher ist, zeigt er jedenfalls Rückgrat.
Es zieht ihn wohl weniger in die Hitparaden, sondern "immer weiter und weiter auf der unsichtbaren Spur..."

Point & Die Spielverderber: "Ich will nicht sein wo ich nicht bin"
point-und-die-spielverderber.de, 2015

Ein musikalisches Rezept gegen Arsonphobie

Die Sommerhitze ist vorbei. Wer sich musikalisch etwas Wärme zurückholen will, dem sei das zweite Werk der britischen Folk-Band Keston Cobblers Club empfohlen.
Wie der Albumtitel vermuten lässt, lodern die Flammen von "Wildfire" in unerwartete Richtungen, finden ihren Ursprung aber in der Wärme eines harmonischen Bandgefüges, das das zusammen singt, spielt und melodisches Liedgut kreiert.
Geschrieben vom Geschwisterpaar Matthew und Julia Lowe, wurde "Wildfire" teils in einem Landhaus in der englischen Grafschaft Devonshire, teils im Wohnzimmer des Elternhauses der beiden Geschwister in Kent aufgenommen und größtenteils selbst produziert.
Mühelos bewegt sich "Wildfire" zwischen Licht und Schatten und überzeugt durch den gekonnten Spagat zwischen Ernsthaftigkeit (wie der dramatische Eröffnungssong "Laws" oder das dunkel-düstere "Sober") und Unterhaltung (etwa das sommerliche "Win again" oder das Seemannslied "St. Tropez"). Die Singleauskopplung "Won't look back" will mit ihrem hymnenhaften Chorus dazu aufrufen, den Kopf nicht hängen zu lassen. Hervorzuheben ist auch das Titellied, das von Julias Angst vor Feuer (der Fachmensch spricht hier von Arsonphobie) handelt. Und sie definiert auch das Rezept, nach dem ihre Lieder "gebacken" werden, wie folgt: "That's strong vocal harmonies, powerful drums and hooky melodies." Und das Ganze dann gut umrühren...
Die Musik von Keston Cobblers Club ist kein angestaubter Folkrock der 70er Jahre, sondern es handelt sich um dynamische Songs, die ohne falsches Pathos oder aufgesetzte Fröhlichkeit bestechen.

Keston Cobblers Club: Wildfire
Glitterhouse Records, 2015

Die musikalischen Wunderwelten einer finnischen Wirtschaftswissenschaftlerin

Ist es eine marktschreierische Anmaßung oder ein kühn formulierter Anspruch, einem Musiklabel den Namen "Beste! Unterhaltung" (noch dazu mit einem Ausrufezeichen...) zu verpassen?!
Das in der fränkischen Provinz beheimatete Label hat die nordische Musik im Fokus. Wer in diesem Kontext mit Skandinavien nur Abba oder Björk assoziiert, kann sich durch die CD-Veröffentlichungen von "Beste! Unterhaltung" Nachhilfeunterricht zur Erweiterung des musikalischen Horizonts geben lassen.
Die 28-jährige Sängerin und Songwriterin Laura Moisio verbreitet auf ihrem zweiten Album "Ikuinen Valo" (Ewiges Licht) eine wunderbar verträumte Stimmung. Erzählt bzw. besungen werden wunderliche kleine Alltagsgeschichten in goldbraunen Sepiatönen. Die junge Frau aus dem finnischen Tampere schafft es, dass man ihrer hellen, doch nuancierten Stimme wie verzaubert lauscht, auch wenn der "normale" Mitteleuropäer kein Wort verstehen dürfte, denn Laura Moisio singt ausschließlich auf Finnisch.
Die Instrumentierung ist meist sehr dezent im Hintergrund gehalten, die Stimme der Künstlerin setzt die markanten Akzente. Nichtsdestotrotz sorgen Trompete bzw. Posaune, Piano oder Akustikgitarre für die passende Begleitmusik.
Wenngleich Finnland und Frankreich weder sprachlich noch geographisch als benachbart gelten dürfen, so mag die Assoziation von Laura Moisio mit der Musik zu dem französischen Kultfilm "Die wunderbare Welt der Amelie" nicht an den Haaren herbeigezogen sein. Doch wenn sich Laura und Amelie zusammen an ein Klavier setzen würden, würde Amelie die weißen und Laura die schwarzen Tasten präferieren.
Bleibt zu hoffen, dass die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin Laura Moisio auch zukünftig den musikalischen Wunderwelten den Vorzug vor den trockenen Zahlenwelten geben wird.


Laura Moisio: Ikuinen Valo
Beste! Unterhaltung, 2015

Ein Pianist auf der Suche nach Distanz

Als der in Hamburg lebende schwedische Pianist Martin Tingvall 2012 mit "en ny dag" (ein neuer Tag) sein erstes Solo-Album veröffentlichte (siehe Blättchen Nr. 21/2012), präsentierte er eine andere Facette, nämlich die ruhige Seite seines künstlerischen Schaffens.
Die von manchen Rezensenten im deutschsprachigen Feuilleton gestellte Frage, ob diese Art von Musik nun Jazz oder Klassik sei, mutet wie die antiquierte Schubladisierung derselbigen an. Für Martin Tingvall ist eine solche Trennung nach Genres reichlich obsolet, sein Klavierspiel steht Edvard Grieg genauso nahe wie Chick Corea.
Mit "Distance" beschreitet er den eingeschlagenen Weg seiner Solo-Werke konsequent weiter. Er geht nach seinen eigenen Worten "auf die Suche nach Distanz. Distanz zur Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit, aber zum Beispiel auch die Entfernung, die entsteht, wenn man sich kaum mehr persönlich trifft, weil die meisten zwischenmenschlichen Kontakte über digitale Medien laufen."
Der Zuhörende bekommt mit dieser CD also eine Einladung, um Abstand zu schaffen zum tagtäglichen massenmedialen Overkill, in dem es kein Ende und keine (Scham-)Grenze mehr gibt.
Wenn man sich auf Tingvalls Musik einlässt, dann kann man innehalten, sich Tagträumereien hingeben, heraustreten aus dem normal wie Norm gewordenen Gedankenkarussell, sinnieren und reflektieren.
Inspirationen holte sich Tingvall nicht zuletzt von einem Aufenthalt auf Island. Hier bekam er ganz neue Perspektiven: "Trotz oder vielleicht gerade wegen der riesigen Entfernungen dort habe ich das Gefühl gehabt, dass es eine viel größere zwischenmenschliche Nähe gibt."
Und wer noch mehr von diesem meditativen Pianospiel haben möchte: Im Herbst wird Martin Tingvall eine ausgedehnte Tournee unternehmen.

Martin Tingvall: Distance Skip Records, 2015

Lieber naiv als korrupt

Konstantin Wecker gilt zweifelsohne als Säulenheiliger der deutschen Linken. Und seine neue CD "Ohne Warum" erscheint im Vorfeld seines immerhin 40-jährigen Bühnenjubiläums. In diesen vier Jahrzehnten hat er selbst durchaus Stehaufmännchen-Qualitäten bewiesen - künstlerische wie persönliche Tiefpunkte und drogenbedingte Abstürze konnte er überwinden.
Sein Rückgriff auf den spätmittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart, der mit "ohn warum" einen Grundsatz des mystischen Denkens beschrieb, mag erst verwundern. Doch der streitbare Künstler plädiert dafür, sich im Leben zu engagieren, ohne auf den "return on invest" fixiert zu sein... ohne Berechnung, vielleicht ohne Sinn...
Wecker greift aktuelle Themen auf wie die Gedanken- und Gefühllosigkeit der Pegida-Demonstranten oder den Zynismus der Aufspaltung in Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge. "Es ist eine grenzenlose Welt, in der ich leben will", heißt das Schlussplädoyer im Lied "Ich habe einen Traum".
Er findet poetische wie selbstkritische Bemerkungen als Elternteil im Song "An meine Kinder". Seine unbestreitbare pazifistische Gesinnung wird mit dem finalen Wunsch an die Nachgeborenen deutlich: "...trag nie eine Uniform..."
Sein legendäres "Willy"-Lied findet eine 2015er Neuauflage. Die Wiederkehr des antifaschistischen Freundes wird erneut herbeigesehnt. Und es finden sich darin Bekenntnisse wie "Ich bin Revolutionär und Romantiker" oder "Lieber naiv als korrupt".
Vielleicht ist dies die Kernbotschaft des neuen Wecker-Albums: Sich den vielfältigen wie hinterhältigen Zumutungen der aktuellen Zeitläufte zu widersetzen, erfordert nicht nur einen kühlen Kopf, sondern ein mitmenschliches Herz.
In diesen nüchternen, ja gefühlskalten Zeiten schafft es dagegen nur ein hemmungsloser Romantiker, "eins mit deinem Traum" zu sein.


Konstantin Wecker: "Ohne Warum"
Sturm & Klang/Alive, 2015

Mediterrane Melancholie

Lassen Sie uns eine Urlaubsfahrt machen. Nicht mit dem Flugzeug oder dem Hochgeschwindigkeitszug. Nein, wir fahren eher entschleunigt auf einem Motorroller.
Wir erkunden auf dieser Fahrt das Herzstück Italiens zwischen Mailand und Rom. Wir meiden dabei die lauten Städte und die überfüllten Strände. Wir drehen einen Kinofilm im Stil der 50er oder 60er Jahre. Ein Road Movie, das nicht von wilden Verfolgungsfahrten handelt, sondern uns die mediterrane Melancholie nahe bringt.
Und als Soundtrack empfehlen wir die soeben erschienene CD von Opez mit dem nekrophilen Titel "Dead Dance". Das kunstvolle Cover mit den zwei Skeletten und den Grammophonköpfen sollte uns nicht zu Rückschlüssen auf morbide Musik verführen. Denn das Opez-Duo, bestehend aus den beiden Multi-Instrumentalisten Massi Amadori und Francesco Tappi, präsentiert auf ihrem Debut-Album höchst quicklebendige Musik.
Sie bieten uns eine Klanglandschaft aus Emotion und Einsamkeit an. Ihr musikalischer Anspruch ist dabei durchaus ambitioniert: "Uns geht es", so der für alle Kompositionen verantwortlich zeichnende Amadori, "nicht allein um die akustische Komponente, unsere Musik soll alle Sinne ansprechen."
Es mag etwas hoch gegriffen sein, doch sie haben damit das italienische Pendant zum Mississippi-Blues geschaffen.


Opez: Dead Dance
Agogo Records/Indigo, 2015

Ein musikalischer Reiseführer für Nomadenseelen

Die Schweizerin Sophie Hunger hatte vor drei Jahren mit ihrer letzten Studioplatte „The Danger of Light“, einer längeren Tournee und dem darauffolgenden Livealbum „The Rules of Fire“ fast eine Art Kultstatus im Genre des Alternative Rock erobert.
Um dann, musikalisch leergefegt, die Flucht aus dem Musikgeschäft nach Kalifornien zu ergreifen.
Dieser Exilaufenthalt in den USA dauerte zwar noch eine Zeit, bevor sie wieder nach Europa übersiedelte - aktuell ist Berlin ihr Hauptwohnsitz. Doch die Flucht vor weiteren musikalischen Aktivitäten war nur sehr kurzfristig.
Denn in einem Museum im Golden Gate Park von San Francisco wurde die Künstlerin fasziniert von den Monddarstellungen. Wissenschaftlichen Theorien zu Folge wurde der Mond nach einem Crash zwischen der Erde und einem Himmelskörper ins All geschleudert. Der Mond besteht demnach aus alter Erde. Was Sophie Hunger sehr irritiert:
„Wir heulen ihn an, weil er für uns so schön die Sehnsucht nach dem Fremden darstellt. Dabei ist er ein Teil von uns.“
Zwei Wochen hielt die selbst auferlegte musikalische Abstinenz nur an, dann begann sie mit einer Gitarre neue Lieder zu schreiben.
Im Titelsong der aktuellen CD singt Hungers Mond, der in der ersten Person erzählt und auf die Erde hinunterblickt:
„I was cut of your stone
I am empty but I’m never alone.”
Man könnte natürlich an die Stelle des Mond-Ichs die Sängerin selbst setzen und die musikalische Botschaft dann so verstehen:
Ich bin aus demselben Stein wie ihr gehauen, liebes Publikum. Ich bin leer und unbewohnt, aber nie allein.“
Allein die Songtitel wie „Mad Miles“, „Die Ganze Welt“, „Heicho“ (schweizerdeutsch für: Nachhause kommen) oder „Queen Drifter“ verraten, dass das Album „Supermoon“ von einer Person handelt, die auszog…
„Queen Drifter“ etwa ist ein Stück, das das Unterwegssein thematisiert: keine Wurzeln schlagen, ohne Familie leben, das Abenteuer suchen …
Und dabei ummantelt sie ihre Texte nicht mit weichgespülten Melodien, sondern arbeitet mit Halleffekten oder lockt den Instrumenten verzerrte Effekte hervor.
Und wenn Kalifornien in „Mad Miles“ bedacht wird mit den Zeilen:
„There’s nothing here to remember or recognize
I could stay here forever and never arrive”
dann ist dies vielleicht auch eine Reminiszenz an ihre Kindheit, die von vielen Ortswechseln geprägt war.
Immer weiterziehen und nie wirklich ankommen …Sophie Hunger hat hierfür einen musikalischen Reiseführer für Nomadenseelen geschrieben.


Sophie Hunger: Supermoon
Caroline/Universal Music, 2015

Chopin in der ersten Reihe hören…

Musikalische Projekte zu Poeten wie Rilke oder Poe sind mit teilweise beträchtlichem Erfolg in den vergangenen Jahren veröffentlicht worden.
Etwas stutzig macht dagegen der Albumtitel „The Chopin Project“.
Wie kann die Chopinsche Klaviermusik, verewigt in unzähligen Einspielungen, neu interpretiert werden, ohne sich von den klassischen Wurzeln völlig zu trennen?

Der junge isländische Komponist Ólafur Arnalds hat mit der deutsch-japanischen Pianistin Alice Sara Ott eine geeignete musikalische Partnerin gefunden, um Chopins Werke aus dem konventionellen Konzertflügel-Ambiente zu lösen.

Zu Beginn ihres Projekts machten sich Arnalds und Ott in Islands Hauptstand Reykjavik auf „Piano-Jagd“ und fanden Instrumente mit „Persönlichkeit“. Manche wurden mit Filz bearbeitet, um überweltliche Effekte zu erzielen. Mit einem Equipment aus vergangenen Zeiten nahm dann Arnalds das Pianospiel von Ott auf und erzielte damit ein sehr dichtes, intimes Setting für ihre Darbietung. Manchmal hört man ein Quietschen, Atemgeräusche, das Klirren von Saiten oder raschelndes Papier, mit anderen Worten: Geräusche des alltäglichen Lebens, die aus sonstigen Chopin-Einspielungen gnadenlos herausgefiltert würden.

Für Arnalds hat das Projekt eine sehr persönliche Dimension, Seine Großmutter machte ihn mit Chopins Melodien bekannt, als er noch ein kleiner Junge war, der Schlagzeug zu spielen und Punk oder Heavy Metal zu hören viel interessanter fand als klassische Musik: „Aber schließlich wuchs mir Chopin ans Herz. Und ich möchte diese Musik all denen nachbringen, die ihr sonst womöglich nicht begegnen würden. Ich halte es für meine Aufgabe, klassische und die nicht klassische Welt zusammenzuführen.“
Ott war von dem Projekt sogleich angetan: „Ich spiele schrecklich gern auf verstimmten Kneipenklavieren und finde, dass Chopins Musik sehr gut dazu passt.“

Auf der CD enthalten sind das magische Regentropfen-Prélude, der melancholische Walzer des Nocturne in g-Moll und der leidenschaftliche, langsame Satz der Sonate Nr. 3. Ein besonderer Ohrenschmaus ist das Nocturne in cis-Moll für Geige und Klavier, das mit der norwegischen Violinistin Mari Samuelson eingespielt worden ist.

Arnalds möchte ein Akustikerlebnis quasi aus der ersten Reihe offerieren: „Die Zuhörer sollen dem vortragenden Musiker so nahe sein, dass sie hören können, wie er atmet und die Tasten berührt.“


Ólafur Arnalds & Alice Sara Ott: The Chopin Project
Deutsche Grammophon/Universal Music, 2015

Jeder ist anders betrunken …

Deutschsprachige Popmusik hat ja immer noch den Charme des Verstaubten. Wenn sich Herz auf Schmerz reimt, dann findet dies auch nur winzige Nischen im globalisierten Mainstream-Radiosender. Dass englische Musiktexte nicht per se intellektuellen Tiefgang versprühen, wird den meisten Zuhörenden in den seltensten Fällen offenbar…
Und dann beginnt das vierte Album der Berliner Künstlerin Toni Kater mit den verstörenden Textzeilen:
Jeder ist anders betrunken
Und jeder ist anders allein
Mein Herz hat längst ausgetrunken
Und abends will es nur bei dir sein.

Die Texte von Toni Kater sind kritischer geworden (vgl. die Rezension zu Toni Kater: Sie fiel vom Himmel im Blättchen Nr. 17/2012).
Während sie musikalisch zusammen mit der Bandkollegin Karen Bolage (Bass, Gitarre, Klavier) moderne, wohlklingende Popmusik präsentiert, die an manchen Stellen durch die Clavioline, einen Synthesizer aus den 30er Jahren, für überraschende Momente sorgt, entwickeln die Lieder ihre Sprengkraft erst bei mehrmaligen Hören.

So greift sie im Titelsong „N.Y. ist tot (Eigentum)“ die Totsanierung der Großstädte und die damit einhergehende Vertreibung von Kreativität und Lebendigkeit auf. Das Lied „Panzer“ hat die musikalische Anmutung eines Kinderlieds, während es die Rüstungsexporte des drittgrößten Waffenlieferanten der Welt thematisiert.
Und doch versprüht Toni Kater, bei aller Ernsthaftigkeit der Themen, nicht die moralinsaure Attitüde des politisch korrekten Liedermachers.
Ihre Lieder haben Witz… und weisen, musikalisch wie textlich, Schrägen und Kanten auf.
Wie heißt es im Song „Möglich im Traum“:
Du siehst Nashörner, die Porsche ziehen,
Kannst mit Einschusslöchern weitergehn,
Wir sind besser als wir wirklich sind,
Sehen alles scharf und sind doch blind -
Im Traum ist alles möglich.

Eingängige Melodien und kritisches Textwerk müssen kein Gegensatz sein… Toni Kater stellt dies mit „Eigentum“ eindringlich unter Beweis.


Toni Kater: Eigentum
Pop Out Label, 2015

Musikalische Fangnetze

„Casting Nets“ sind die von Fischern verwendeten Wurfnetze. Wenn man diesen Begriff auf die gleichnamige CD der neuen Musikband Distance, Light & Sky anwendet, dann kann man die berechtigte Frage stellen: Welches neue Wurfnetz setzt der seit gut drei Jahrzehnten musikalisch aktive Chris Eckman ein?
Kurze Rückblende: 1983 lernt der Student Chris Eckman beim Jobben in einer Fischfabrik in Alaska die bisher als Straßenmusikerin aufgetretene Carla Torgerson kennen. Im Folgejahr ziehen sie beide nach Seattle, der damaligen heimlichen musikalischen Hauptstadt der USA, und gründen „The Walkabouts“. Diese Gruppe arbeitet im Lauf der kommenden Jahre und Jahrzehnte mit verschiedenen Gastmusikern (etwa Peter Buck von R.E.M. oder Brian Eno) zusammen und durchlebt als eine der führenden „Alternative Rock“-Bands die Höhen und Tiefes des Musikgeschäfts, mal bei einem kleineren unabhängigen Label, mal beim großen Musikkonzern Virgin Records.
Chris & Carla treten auch als Duo bzw. in anderen Besetzungen auf, sie sind eine Zeit lang nicht nur musikalische Partner….
Und nun? Der etwas spröde anmutende Bandname „Distance, Light & Sky“ vereint Chris Eckman, die niederländisch-britische Sängerin Chantal Acda und den belgischen Percussionisten und Komponisten Eric Thielemans.
Wohl wissend um ihren höchst unterschiedlichen biografischen wie musikalischen Hintergrund vertreten sie den Anspruch, als drei gleichberechtigte Musiker mit einer gemeinsamen Vision und auf Dauer aufzutreten, eben kein neues Seitenprojekt der Walkabouts darzustellen.
Dieser musikalische Ablösungsprozess ist ihnen noch nicht vollständig gelungen Denn wenn Chris und Chantal im Duett singen, dann werden unweigerlich die Parallelen zu Chris und Carla gezogen.
Hat sich Mister Eckman rettungslos im altbewährten Netz der Walkabouts verheddert?
Das erste Fangergebnis von Distance, Light & Sky sollte jedenfalls nicht zu gering geachtet werden. Aufgenommen in den Prager Sono Studios, ist dem Trio eine zeitlose Musik im Genrebereich Alternative-Rock/Folk-Rock gelungen, die durch ihren harmonischen Sound eine große Entspanntheit ausstrahlt und den Zuhörenden zunehmend gefangen nimmt.
In solch einem Netz zappelt man einfach gerne…


Distance, Light & Sky: Casting Nets
Glitterhouse, 2014

Zwei musikalische Erforscher

Klassische Musikliebhaber mögen laut aufstöhnen. Denn was das Musikduo Grandbrothers kreiert, basiert zwar auf einem Konzertflügel, hat aber - akustisches Paradoxon - sehr wohl elektronische Klänge, die eher einem Synthesizer zuzuordnen sind.
Die beiden Düsseldorfer Erol Sarp und Lukas Vogel gründen die Grandbrothers 2011 während ihres Studiums am dortigen Institut für Musik und Medien. Während sich Erol Sarp vornehmlich auf das Klavier konzentriert, entwickeln sich Lukas Vogels musikalische Ambitionen eher in Richtung elektronische Musik.
Zusammen tüfteln sie an einem Sound, der klassische Klavierkompositionen mit elektronischer Klangästhetik in Verbindung bzw. unter Mithilfenahme moderner Technik vereint.
Doch anders als der erste Höreindruck vermuten lässt, setzen die Musiker eben keine synthetischen Klangerzeuger ein. Vielmehr hat Lukas Vogel eine Apparatur entwickelt, die eine ungewöhnliche Erweiterung des klassischen Klavierspiels ermöglicht: Es werden an das Instrument eine Reihe elektromechanischer Hämmerchen befestigt, die über einen Laptop gesteuert auf verschiedene Teile des Klaviers klopfen und auf diese Weise höchst artifiziell anmutende Töne erzeugen.
Eine gewisse schematische Einförmigkeit ist nicht von der Hand zu weisen, da die meisten Stücke mit sehr minimalistischen Klangfolgen, bestehend nur aus zwei oder dreiTönen, beginnen, die dann immer weiter variiert und mit Klavierakkorden unterlegt werden.
Diese durchaus innovative Erweiterung des herkömmlichen Klangspektrums kommt live wohl eher auf Tanzflächen von Musikclubs als in Konzertsälen klassischer Provenienz zum Einsatz.
Doch gleich ob als elektronische Clubmusik oder als cineastische Musiklandschaft im heimischen Wohnzimmersessel: Die Grandbrothers offerieren mit "Dilation" ein Dutzend Lieder, die aus einem traditionellen Musikinstrument neue Ton- und Rhythmusstrukturen erschaffen.
Folgerichtig fasst Erol Sarp die Intention des Albums wie folgt zusammen: "Dilation bedeutet so viel wie Ausdehnung oder Erweiterung. Wir betrachten unser Projekt auch als Experiment, wie weit wir mit eben dieser Erweiterung der Mittel des klassischen Pianos kommen. diesen Raum wollen wir erforschen."


Grandbrothers - Dilation
Film-Recordings, 2015

Sehnsüchte ... in Musik gegossen

Er sieht Ende März seinem 64. Geburtstag entgegen. Geboren in Berlin-Charlottenburg, ist Berlin zum Fixpunkt seines beruflichen und künstlerischen Lebenswegs geworden bzw. geblieben. Anfang der 70er Jahre absolvierte er eine Schauspielausbildung am Max-Reinhardt-Seminar. Bekanntheit erlangte er u.a. für die Hauptrolle im Film "Die Leiden des jungen W." nach Ulrich Plenzdorfs Roman.
Mitte der 70er Jahre begann dann auch seine Karriere als Musiker. Annähernd fünfzig CD's und DVD's sind zwischenzeitlich von ihm - von Klaus Hoffmann - erschienen.
Was kann eine neue CD-Veröffentlichung von ihm bieten?
Mit "Sehnsucht" bietet er keinen innovatorischen Sprung in ein neues musikalisches Genre. Stattdessen ist es eine künstlerische Rückbesinnung auf die Folk-Musik der 60er Jahre. Mit seiner bewährten Band (Hawo Bleich/Flügel und Keyboards; Micha Brandt/Gitarre; Peter Keiser/Bass; Stephan Genze/Percussion und Schlagzeug) entstand ein Album, das leicht daherkommt, aber beim intensiveren Zuhören viel Tiefgang erkennen lässt. Als musikalische Väter bezeichnet er Jacques Brel und Frank Sinatra.
Klaus Hoffmanns Liedtexte sind voller Poesie. So beschreibt er sensibel den einsamen "Mann auf der Bank". Und "Gestern" (Gestern hab ich nichts Bedeutendes gemacht/hab mich treiben lassen, hab kein Feuer angefacht...) wird plötzlich ein tragischer Krankheitsbefund offenbar, der in eine melancholische Lebensschau mündet.
Heimweh nach Zuhause bekundet er im Lied "Die einfachen Dinge": Es waren immer nur die einfachen Dinge, die mich ziehn/ mein Fahrrad und das Pflaster, die Straßen von Berlin...
Einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterlässt auch "Sie sind wieder da". Aus der lyrischen Betrachtung von Flugvögeln wird eine Auseinandersetzung über das Nahe und das Fremde sowie über den ewigen Spießer und dessen Angst vor der bunten Welt.
"Sehnsucht" ist das altersweise Werk eines großen poetischen Musikers. Und hoffentlich noch lange nicht dessen künstlerischer Schlusspunkt...


Klaus Hoffmann - Sehnsucht
stille-music, 2014

Jiddische Weltmusik aus Nürnberg

Mit Klezmer wird üblicherweise die Musik der Juden Osteuropas assoziiert. Das NS-Terrorregime bedeutete nicht nur millionenfachen Mord an diesen Menschen, sondern drohte auch deren Kultur - ihre spezifische Alltagskultur, aber auch ihre Musik und Literatur - komplett auszulöschen.
Im Gefolge der Weltmusik konnte auch Klezmer in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten (wieder) aufnahmebereite Ohren finden. Die Global Shtetl Band aus Nürnberg hebt seit 2006 solche musikalischen Schätze.
Sie richtet dabei den Fokus nicht nur auf das "klassische" jiddische Liedgut osteuropäischer Provenienz, sondern greift auch dessen lateinamerikanischen Varianten auf, wo es ja schließlich auch jüdische Communities gibt.
Interessanterweise ist der in Nürnberg beheimatete Bandleader Markus Milian Müller selbst gar kein Jude, hat aber Jiddisch studiert und beherrscht, wie sich unschwer heraushören lässt, diese Sprache perfekt.
Und er beschränkt sich mit seinen Bandkollegen, dem Akkordeonisten Bartlomiej Stanczyk und dem Perkussionisten Daniel Piccon nicht auf eine professionelle, aber eklektische Musikdarbietung.
Denn auf ihrem neuen Album "7 Glezer" (7 Gläser) präsentieren sie überwiegend eigenkomponierte Stücke, die den Klezmer etwa mit Latino-Rhythmen einen frischen Drive geben.
Und es geht in ihren Liedern um die Liebe, die Einsamkeit, die Freuden des Rausches (im Titellied) und um andere süße Leiden des Lebens.
Melancholische Poesie in Wort und Ton - nicht nur für trübe Wintertage...


Global Shtetl Band - 7 Glezer
www.globalshtetlband.com, 2014